Magazin FIRST

Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

03/2018 Facettenreich

Wohn.kultur

Das bewegte Haus

Wer im «Movable House» wohnt, muss sich bei einem Umzug keine Gedanken um die neue Bleibe machen. Das Haus zieht einfach mit. In dem experimentellen Projekt loten die Architektinnen statische und bauphysikalische Grenzen aus. Die Tragstruktur besteht aus vier begehbaren Holzschränken. Sie tragen die Dachelemente aus vorgespanntem Beton.

Ob auf der grünen Wiese, als Nachverdichtung im Stadtgebiet oder parasitär auf einem Gebäude: Das Movable House ist nicht für einen bestimmten Standort gemacht, sondern an den verschiedensten Orten denkbar. Entwickler des Pilotprojekts sind Rahbaran Hürzeler Architekten, ZPF Ingenieure und das Institut Energie am Bau der Fachhochschule Nordwestschweiz. Mit dem modularen Baukasten ermöglichen sie der Bauherrschaft, in ein paar Jahren den Lebensmittelpunkt inklusive Haus an einen anderen Standort zu verlegen. Grundvoraussetzung dafür stellt die Entwicklung eines Konstruktionssystems dar, das einerseits einen leichten und effizienten Transport und andererseits den schnellen Auf- und Abbau der Gebäudeteile ermöglicht. Die vorgefertigten Segmente können dann an dem neu gewählten Wohnort zusammengesetzt werden.

An Umzug samt Haus ist noch nicht zu denken. Für das Erste plant die Bauherrenfamilie den Erstbezug in der Gemeinde Riehen, Kanton Basel-Stadt. Dort steht das Haus in einem als sanfte Hügellandschaft modellierten Garten, der unterhalb des Elternhauses liegt. Ein gewundener Weg führt auf Umwegen zum Neubau. Die naturnahe Gestaltung mit der üppigen Bepflanzung steht in starkem Kontrast zum streng geometrischen Haus. Durch die Einbettung des Hauses in das Gelände, die Bepflanzung und die Natursteinmauern erweitert der Garten den Wohnraum mit einer lebendigen Kulisse.

 

Begehbare Holzschränke tragen die Last

Der Grundriss basiert auf einem Quadrat von rund zehn Metern Seitenlänge. Vier Kerne teilen die Fläche in unterschiedlich grosse Wohnräume. Diese Wohnräume werden über einen zentral angeordneten, kreisrunden Bewegungs- und Aufenthaltsraum miteinander verbunden und bilden Raumabfolgen über die Diagonale. Die stützenfreien Gebäudeecken mit weit auskragenden Decken sind verglast und öffnen das Gebäude zur Landschaft. Die Tragstruktur des Gebäudes besteht aus vier begehbaren Holzschränken, welche die auskragenden Dachelemente aus vorgespanntem Beton tragen. Die Kerne sind raumhaltige Schränke: Sie beinhalten sowohl die Installationen für die Nebennutzungen Küche und Bad als auch die gesamte Haustechnik. Die kompakte Planung dieser Kerne maximiert den von Installationen befreiten Wohnraum.

Beim Movable House steht die Minimierung der Schichten und der verwendeten Materialien im Vordergrund. Daher hat das Wohnhaus kein Tragwerk im klassischen Sinn, sondern tragende Elemente, die gleichzeitig Möbel, Decke und Boden bilden sowie Wärmedämmung und Energiespeicher beinhalten. Die Entwicklung eines Tragwerks, das all diesen Anforderungen gerecht wird, war herausfordernd. Die horizontale und vertikale Lastabtragung erfolgt über die vier Schrankvolumen aus 40 Millimeter starken Mehrschichtplatten aus Buchenholz. Für die Verbindung der tragenden Elemente Decke, Schrank und Boden wurde ein ingenieurtechnisches Detail speziell für das Projekt entwickelt: Stahlhalbmonde mit einer Zugkraft von 25 Kilonewton verbinden die Holzkerne mit den Betonplatten und spannen die Elemente schliesslich wie zu einem grossen Möbel zusammen.

Die Decke besteht aus fünf vorgespannten Betonelementen, die zehn Meter lang, zwei Meter breit und sechs Zentimeter stark sind. Diese Elemente sind bereits ab Werk zwischen den seitlichen Rippen gedämmt. Der Boden bildet sich durch fünf gleich grosse Betonelemente mit elf Zentimetern Stärke.

 

Die Familie wohnt in einem Forschungsprojekt

Dank der integrierten Module mit Phasenwechselmaterialien (PCM) auf Wachs- und Salzbasis entspricht die Speicherkapazität jener einer 30 Zentimeter starken Betonplatte. Alle Betonelemente bestehen aus Weisszement mit Zuschlägen aus Carrara-Marmor. Die Deckenuntersichten sind roh belassen, die Bodenelemente wurden vor Ort geschliffen, um eine terrazzoartige Optik zu erhalten. Die Schrankvolumen aus Buchenschichtholz sind nicht zusätzlich verkleidet und somit als Struktur sichtbar. Die Tragstruktur prägt den Raum durch ihre Materialität und Oberfläche massgeblich. Im Rahmen eines Innosuisse-Projekts untersucht das Institut Energie am Bau der FHNW zusammen mit ZPF Ingenieure und der Firma Skycell das vorfabrizierte, material- und kostensparende Decken- und Bodensystem, um Grundlagen für die industrielle Produktion zu erarbeiten. Das Movable House dient dabei als Prototyp und Testobjekt für die Decken- und Bodenelemente. Untersucht werden die Umweltbelastung durch die Erstellung der Elemente und das thermische Verhalten im Gebäude. Dabei steht der Einsatz von Phasenwechselmaterialien zur Kompensation der reduzierten Speichermasse im Fokus. Das Institut hat die energetische Konzeption entwickelt und mit Hilfe dynamischer Gebäudesimulation optimiert. Mit im Gebäude und im Erdreich eingebauten Sensoren werden im ersten Betriebsjahr Messdaten gesammelt und anschliessend ausgewertet.

 

Nachhaltiges Bauen in vielerlei hinsicht

Das Movable House vereint verschiedene Aspekte des nachhaltigen Bauens: In wirtschaftlicher Hinsicht senken die materialsparende Konstruktion und die vorfabrizierte Bauweise die Investitionskosten. Der geringe Heizwärmebedarf, die wartungsarme, einfache Gebäudetechnik und die Eigenproduktion von Solarstrom reduzieren die Betriebskosten. Durch den flächeneffizienten Grundriss und den geringen Flächenverbrauch pro Bewohner kommen auch soziokulturelle Aspekte zum Tragen. Das neu entwickelte, vorfabrizierte Deckensystem ermöglicht in Kombination mit dem Holzelementbau hohe strukturelle und funktionelle Flexibilität sowie eine ausserordentlich gestalterische Qualität. Die Materialeinsparung durch das vorfabrizierte Deckensystem, der Einsatz nachwachsender Rohstoffe und die einfache Auf- und Abbaubarkeit verbessern die Nachhaltigkeit der Gebäudekonstruktion. Im Betrieb wirken sich die Energieeffizienz der Gebäudehülle, die Nutzung von Erdwärme und die Produktion von Solarstrom vor Ortpositiv aus. Durch den guten Wärmeschutz und die optimierte Nutzung der Solarenergie wird die gesetzliche Anforderung an den Heizwärmebedarf um 40 Prozent unterschritten. Die Jahresproduktion der Photovoltaikanlage übersteigt den Gesamtstrombedarf des Gebäudes.

Das Movable House experimentiert, es ist nachhaltig und ästhetisch. Mehr als genug Gründe dafür, dass die Bauherrschaft beim nächsten Umzug auch ihr Eigenheim auseinanderbaut, einpackt und mitnimmt.
rharchitekten.ch/movable_de 

Das Projekt – die Fakten

Objekt: Einfamilienhaus
Standort: Riehen (BS)
Baujahr: 2018
Bauherrschaft: privat
Architektur und Bauleitung: Rahbaran Hürzeler Architekten, Basel
Tragwerksplanung: ZPF Ingenieure AG, Basel
Forschungsprojekt: FHNW, Basel
Holzbau und Schreinerarbeiten: Hürzeler Holzbau AG, Magden (AG)
Fenster: Hunziker Schreinerei AG, Schöftland (AG)
Gebäudevolumen: 374 m3
Bruttogeschossfläche: 107 m2
Holz: 6,87 m3 Mehrschichtplatten aus Buchenholz


Rahbaran Hürzeler Architekten

Das Basler Architekturbüro Rahbaran Hürzeler gibt es seit 2011. Gegründet haben es die Architektinnen Shadi Rahbaran und Ursula Hürzeler. Die Erfahrung des Büros reicht von städtebaulichen Projekten und Forschung über private und öffentliche Bauaufgaben bis hin zum Ausstellungs- und Objektdesign. Rahbaran Hürzeler Architekten ist in Frankreich und Deutschland lizensiert und bearbeitet zurzeit Projekte in der Schweiz, Deutschland und Frankreich. rharchitekten.ch

Magazin Wir HOLZBAUER

Das Mitglieder- und Verbandsmagazin von Holzbau Schweiz