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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

02/2016 Innere Werte

Lebens.raum

Wie ein ungeschliffener Diamant

Ein Rohdiamant verbirgt seinen wahren Wert unter einer rauen Oberfläche. Der fünfeckige Solitärbau in Zweisimmen tut dies ebenfalls. Erst bei genauem Hinsehen offenbart sich das bauliche Kleinod unter der Fassade aus Schwartlingen. Text Dorothee Bauland | Fotos N11 Architekten GmbH

Verdichtetes Bauen im alpinen Raum - kein Widerspruch, wie das fünfgeschossige Wohn- und Geschäftshaus im Obersimmental (BE) auf eindrucksvolle Weise zeigt. Gerade in ländlicher Gegend mit grosszügigem Platzangebot ist ein sorgsamer Umgang mit Kulturland nicht selbstverständlich. Für Regula Trachsel und Sascha Schär von N11 Architekten und N11 Bauingenieure aus Zweisimmen gilt das Motto "Weniger ist mehr". Mit dem fünfgeschossigen Holzbau auf minimaler Grundfläche wird jedoch nicht nur wertvolles Kulturland geschont. "Das Bauprojekt soll aufzeigen, dass es heute möglich ist, einfach, günstig und ökologisch zu bauen, ohne später Sondermüll und einen Haufen Abfall zu hinterlassen", erläutert Schär sein Anliegen zum nachhaltigen Bauen.
Ihr Ziel war ausserdem, Arbeiten und Wohnen unter einem Dach zu vereinen, ÖV-nah zu bauen und die Vorteile der Alpenregion gegenüber dem Mittelland (viel Sonne, wenig Nebel) auszuspielen und somit ein Gebäude ohne Heizung zu realisieren. Das Vorhaben diente ausserdem als Start-up-Projekt und sollte zugleich die Philosophie und den Grundgedanken der N11 Architekten zeigen: "Nicht nur reden, sondern vorleben."

HOLZBAU OHNE HEIZUNG

Die Industriezone in Zweisimmen mit den vielen brachen Zwischenräumen bot sich mit ihrer zentralen Lage an, Arbeiten und Wohnen zu kombinieren. "Auch kam uns entgegen, dass das Baureglement der Gemeinde in der Arbeitszone eine Gebäudehöhe von 16 Metern erlaubt", so Schär. Die Grundfläche des Gebäudes mit Arbeits- und Wohnfläche konnte daher sehr klein ausfallen. "Obwohl die Brandschutzvorschriften den fünfgeschossigen Wohnungsbau mittlerweile problemlos ermöglichen, gibt es bislang nur wenige mehrgeschossige Holzbauten in der Schweiz", bedauert Schär. Besonders motiviert habe ihn die Herausforderung, in einer Region wie das Simmental einen mehrgeschossigen Holzbau auf einer kleinen, brachen Parzelle zu realisieren - zudem ohne Heizung.

FÜNFGESCHOSSIGES SOLITÄR

Das fünfeckige Haus befindet sich direkt neben der Zufahrtsstrasse zur Gewerbezone auf einem ehemaligen Stück Brachland, welches der Baumat AG zuvor als Gartenplattenausstellung diente. Der fünfgeschossige Solitärbau ergänzt das bestehende grosse, horizontale Volumen dieses Firmengebäudes und der umliegenden Nachbargebäude so, dass die Philosophie des vertikalen Bauens gut ersichtlich ist. Das einfache Raumprogramm und der nördliche Haupteingang des Geschäftshauses erlauben es, die Treppenanlage nicht nur als vertikale Verbindung, sondern auch als Pufferzone der Innenräume zur Nordseite hin zu gebrauchen. Das Abdrehen der Westfassade gegen Süden bezweckt eine längere Sonneneinstrahlung im Winter, damit sich das Volumen in den kalten Monaten passiv mit Sonnenenergie aufwärmt.

GEWERBE MIT DUPLEXWOHNUNG

Für die Bauherrschaft war es wichtig, zusätzliche Geschäftsflächen für das heimische Gewerbe zu schaffen. Das Erdgeschoss sowie das erste Obergeschoss können als Geschäfts-, Büro- oder Ladenfläche vermietet werden. Das öffentlich zugängliche Treppenhaus gelangt bis zum zweiten Obergeschoss, in dem sich das Architektur- und Ingenieurbüro der Bauherrschaft befindet. Vom Treppenhaus geht es ausserdem über das Eingangspodest der Dachwohnung in den privaten Bereich. Somit lassen sich der öffentliche und der private Teil gut voneinander abtrennen und unterscheiden. Die Duplexwohnung, ein über zwei Etagen entwickelter Wohnraum, erfährt durch ihren loftartigen Grundriss einen urbanen Charakter. Damit unterscheidet sich die Wohnung deutlich von den im Berner Oberland traditionellen Wohnungen im Chalet-Stil.

NATÜRLICHER KREISLAUF

Wird ein Haus nur mit Sonnenstrahlen aufgewärmt, braucht es im Inneren entsprechend viel Masse, um die Sonnenenergie speichern zu können. Von entscheidender Bedeutung ist deshalb die Bauweise. Mit der Massivholzbauweise in Kombination mit einer Holz-Beton- Verbunddecke und einem Stampflehmboden kann die notwendige Masse zur Energiespeicherung erreicht werden. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die wohngesunden Eigenschaften der verwendeten Naturprodukte für Wand und Decken. Durch den Verzicht auf Leim und chemische Bestandteile ist für das Gebäude keine künstliche Entlüftung oder zusätzliche Gebäudetechnik erforderlich. Bei einem späteren Rückbau des Gebäudes lässt sich das Baumaterial ohne hohe Kosten und ohne Sondermüllabgabe wieder in den natürlichen Kreislauf integrieren (Cradleto- Cradle) oder nochmals in Form von Paletten oder Brennholz verarbeiten.

SOLARES DIREKTGEWINNHAUS

"In einem Gebäude treten verschiedene Energieflüsse auf", erläutert der Architekt. Der Energieeintrag in das Gebäude könne primär durch die tiefen Sonnenstrahlen im Winter erfolgen, aber auch durch die Wärmeabgabe von Personen, Beleuchtung und Haushaltsgeräten. "Innerhalb eines Gebäudes kann Ener gie von den vorhandenen Speichermassen in Form absorbierter Solarstrahlung aufgenommen beziehungsweise abgegeben werden." Durch die Speichermassen könne zusätzlich auch Wärme infolge einer Übertemperierung der Räume aufgenommen und (zwischen)gespeichert werden. Schär: "Die Wärmeabgabe erfolgt dann, wenn die Speichermasse wärmer als die umgebende Raumtemperatur ist." n11.ch

Das Projekt - die Fakten

Projekt: Solares Direktgewinnhaus N11, Zweisimmen (BE)
Baujahr: 2014
Auszeichnung: Constructive Alps 2015 – Internationaler Preis für nachhaltiges Sanieren und Bauen in den Alpen (Anerkennung)
Bauherrschaft, Architektur: Regula Trachsel, Sascha Schär, N11 Architekten GmbH und N11Bauingenieure GmbH, Zweisimmen
Holzbausystem: Holz100 Schweiz AG,Steinen (SZ)
Holzbau: Zimmerei Markus Kunz, Zweisimmen

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