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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

03/2016 Heimatverbunden

Lebens.raum

Von der Gemeinde, für die Gemeinde

Die Gemeinde Nesslau im Toggenburg setzt beim Bauen auf regionales Holz: wie bei der Heizzentrale, der Sporthalle oder der Laaderbrücke. Neu dabei ist das Gemeindehaus, das jüngste Beispiel für nachhaltiges Bauen in der Region.

Text Sandra Depner | Quelle Atelier-F Architekten AG, St. Galler Tagblatt | Fotos Ralph Feiner Fotografie, Gemeinde Nesslau

Akten nehmen, Ordner verstauen, Schreibtisch leeren. Im April 2015 war es so weit: Für Mirjam Künzli und die anderen Mitarbeitenden der Gemeinde Nesslau (SG) hiess es Kisten packen und in provisorische Gebäude zügeln. Das Gemeindehaus, erbaut 1919, war renovationsbedürftig und konnte den brandschutztechnischen Vorschriften nicht mehr standhalten. Der Abriss stand kurz bevor. Nach wenigen Monaten im Provisorium konnte Künzli schon im September 2015 das neue Gemeindehaus in Holzbauweise beziehen. "Es ist modern und mit viel Holz eingerichtet. Ich schätze das angenehme Arbeitsklima hier", beschreibt Künzli ihren neuen Arbeitsort.

Während der ganzen Arbeiten am Gebäude hielt die Regionalzeitung die rund 3500 Gemeindemitglieder auf dem Laufenden: von dem Projektwettbewerb 2012 und dem Urnengang der Stimmbevölkerung über den Abbruch bis zur Züglete ins Provisorium. Die Leser erfuhren in detaillierten Reportagen davon, wie Nesslaus Re­vier­förster die schlagreifen Weisstannen im nahegelegenen Wald ausgesucht hat, wie die Stämme über den verschneiten Waldboden transportiert und in der ortsnahen Sägerei zu Fassaden­brettern verarbeitet wurden. Wer nicht zur Eröffnung des Holzbaus vor Ort sein konnte, konnte tags darauf in der Zeitung lesen, dass es neu riecht, leichter Betongeruch in der Luft liegt, während in den Büros feiner Holzduft weht – und dass sich die Mitarbeitenden sorgen, ob Internet- und Telefon funktionieren werden.

Ein Holzbau mit Herz und Seele

Der Neubau ist regional bedeutend. Nicht nur das Gros des verbauten Baumaterials stammt aus der Gegend um Nesslau. Was den Neubau noch relevanter für die Gemeinde macht, ist, dass deren Mitglieder wesentlich beteiligt waren. Der Grossteil der Wertschöpfung, rund 80 Prozent, stammt aus dem oberen Thurtal: der Betonkern aus Kies, das aus dem nur zehn Kilometer entfernten Steinbruch Starkenbach angeliefert wurde; das Holz, das im nahen Wald gewachsen ist; die Ausführung durch hiesige Handwerker. Beim Neubau gingen von 25 erfolgten Vergaben allein 16 an ortsansässige Unternehmen, drei an Toggenburger Firmen und die restlichen an spezialisierte Betriebe von ausserhalb. So viel regionale Wertschöpfung hat den Lokalreporter dazu inspiriert, das neue Gemeindehaus aus einem ganz speziellen, persönlichen Blickwinkel vorzustellen: "Es hat ein Herz aus Beton, einen Körper aus Holz - und die Seele eines Einheimischen."
Weil die Tragkonstruktion zu 80 Prozent, die Fassade sogar zu 85 Prozent mit Schweizer Holz gebaut ist, erhielt der Neubau die Auszeichnung "Herkunftszeichen Schweizer Holz" (HSH) von der Lignum, Holzwirtschaft Schweiz. Das Label steht für Projekte, für die mindestens 80 Prozent Schweizer Holz verwendet werden. Gleich am Eingang weist die Plakette Besucher auf die umweltfreundliche Bauweise mit dem heimischen und nachwachsenden Rohstoff hin. Die Bauherrschaft, die Gemeinde Nesslau, sprach sich gegen einen "Beton- oder Glaspalast" aus, ein Holzbau war gewünscht. Die Wertschöpfung - Material, Handwerk und Dienstleistung - sollte in der Region bleiben. Auch war es ein Kriterium, das nahe architektonische Umfeld mit einzubeziehen: Der Neubau sollte mit dem benachbarten Haus Nüssli harmonieren. Das Kulturobjekt ist eines der ältesten Bauten in der Gemeinde und geniesst ­einen hohen symbo­lischen Wert bei den Einwohnern. Nach wie vor finden dort zivile Trau­ungen statt und Ausstellungen laden die Bevölkerung zu einem Besuch ein. Beim Pro­jekt­wettbewerb überzeugte die Atelier-F Archi­tekten AG aus Fläsch (GR) mit ihrem Entwurf, der sich harmonisch in die bestehende Struktur im Dorfkern einfügt. Nicht nur aus gestalterischen sowie konstruktiven Gründen ging der Auftrag an das Büro nach Fläsch: Die Architekten von Atelier-F punkteten auch bezüglich Situation, Wirtschaftlichkeit, Orga­nisation, Gestaltung, Konstruktion und nicht zuletzt durch die Finanzierbarkeit mit Kosten in Höhe von 4,5 Millionen Franken.

Harter Kern, warme Schale

Das neue Gemeindehaus von Nesslau ersetzt die Platzierung und Volumetrie des Vorgänger­baus. Zusammen mit dem historischen Haus Nüssli, dem neu gestalteten Hof und dem Geräteschopf entsteht ein Ensemble, welches Neu und Alt als Einheit erleben lässt. Topo­grafisch befindet sich das Areal am Kopf eines Moränenzugs. Die in den Strassenraum ra­gende Auskragung betont die besondere Lage, unterstreicht den öffentlichen Charakter und erinnert an die Arkaden des früheren Gemeindehauses.

Das im Dorf präsente Holzhandwerk kommt auf zeitgemässe Art zum Tragen. Ein beachtlicher Teil des verbauten Holzes stammt aus dem eigenen Wald, hierfür wurden vom Forstteam etwa 470 Kubikmeter Fichten- und Tannenrundholz bereitgestellt - 225 Kubikmeter davon sind verbaut. In der nahegelegenen Heiz­zentrale wurde das Rest­holz in Energie umgewandelt. Die Fassade be­steht in ihrem Inneren aus einer massiven Holz­konstruktion, wobei stehende Bohlen der vertikalen Lastabtragung dienen. Eine Dämmung aus recyceltem Zei­tungspapier hüllt sie ein. Die Fassade besteht aus einer traditionellen, rohen Fichtenbrettschalung mit Deckleisten aus Weiss­tanne. Auf horizontaler Ebe­ne gliedern geschossweise umlaufende Gesimse die Fassade, während die leicht unterschiedlichen Stärken der Deckleisten eine fein strukturierte Schattenwirkung erzeugen. Das prägende Element der Fassade sind die Fenster mit ihrem quadratischen Mittelflügel und zwei Seitenflügeln. Der Mittel­flügel rahmt den Blick aus dem Büro; die Seitenflügel erinnern an Fensterläden und nutzen die Sonneneinstrahlung, um indirekt Energie zu gewinnen.

Über vier Geschosse verteilen sich die Ver­wal­­tungsräume. Die einläufige Treppe verbindet den strassenseitigen Hauptzugang mit der Eingangshalle im Erdgeschoss. Die einzel­nen Büro­­räume sind ringförmig um die zen­trale Treppenanlage angeordnet. Im Grundmass sind sie gleich gross und modulartig aufgebaut. Das tragende Element bei den Ge­schoss­decken der Büroräume ist eine Brettstapelkonstruktion. In den ganz aus Fich­tenholz ausgekleideten Verwaltungsräumen tragen Parkettböden zu einem angenehmen Arbeitsklima bei. Die Möbel hingegen wurden aus Esche angefertigt. Die Halle und die Treppe bilden einen Kern aus Beton, wobei Sicht­beton an Wand und Decke als starker Kon­trast zu den mit Holz verkleideten Büro­räumen wirkt. Mit Terrazzo als Bodenbelag im Treppenhaus kommt ein Klassiker zum Zug. Das Material für die Betonwerksteine stammt aus dem Steinbruch Starkenbach, dessen dort gewonnener Kies farbgebend für den Boden ist.

Das neue Gemeindehaus soll möglichst wenig Fremdenergie benötigen. Deshalb wurde bewusst auf eine kontrollierte Lüftungsanlage verzichtet. Die ganze Beleuchtung ist mit sparsamen LED-Leuchtmitteln bestückt. Die nötige Wärme kommt aus der Schnitzelheizung im Rahmen eines Fernwärmeverbunds mit dem Holzenergiezentrum Toggenburg. In der Hügel­topografie ist die Erdmoräne erhalten geblieben. Der Platz zwischen Neubau und historischem Nüsslihaus wird als Innenhof gestaltet, geprägt von einer neu gesetzten Linde, eingefasst mit einer Hecke. In das Gebäudeensemble integriert ist der Geräteschopf. So kann der Hof für Pausen oder Apéro-Anlässe genutzt werden.

Vergessene Schätze im Archiv

Mittlerweile ist auch die letzte Kiste im neuen Gemeindehaus verstaut, die Telefonanlage klingelt zuverlässig, die Archivräume füllen sich. Fast ist die Zeit vor dem Neubau vergessen. Wären da nicht die bedeutenden Archivfunde im Rahmen der Züglete, die Verwaltung, Einwohner und sogar den Kanton St. Gallen be­schäftigen. Mehr als tausend Urkunden kamen zum Vorschein, die zum Teil bis ins 15. Jahrhundert zurückgehen. Sie dokumentieren die Arbeit der Gerichte "zue dem Wasser" und "Thurtal". Die Urkunden sollen, unterstützt vom Kanton St. Gallen, nun restauriert werden. So ist es beim Zügeln, im Kleinen wie im Grossen, man entdeckt den einen oder anderen in Vergessenheit geratenen Schatz. atelier-f.ch

Das Projekt – die Fakten

Objekt: Gemeindehaus Nesslau (SG)
Baujahr: 2015
Bauherrschaft: Gemeinde Nesslau
Architektur: Atelier-F Architekten AG, Fläsch (GR)
Auftragsart: eingeladener Wettbewerb
Bauleitung: Wickli + Partner AG, Nesslau
Holzbauingenieur: Walter Bieler AG, Bonaduz (GR)
Holzbau: ARGE c/o Abderhalden Holzbau AG, Wattwil (SG)
Fenster: Huber Fenster AG, Herisau (AR)
Betonbauingenieur: Bleiker + Partner AG Bauingenieure, Neu St. Johann (SG)
Gesamtkosten (BKP 1–9): CHF 4?525?000.–
Baukosten (BKP 2/m?3): CHF 850.–/m?3
Auszeichnung: Herkunftszeichen Schweizer Holz (HSH)
Nachhaltigkeitsstandard: Dämmkonzept nach Minergie (ohne Label)

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