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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

04/2021 Hin und weg

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Ein Himmel voller?… Geometrie

Urs Beat Roth ist Architekt und Künstler mit besonderer Leidenschaft: die Geometrie. Dafür brennt er schon seit über 55 Jahren. Für die neue Fischerstube am Zürichsee entwickelte er zusammen mit dem Architekten Patrick Thurston ein markantes Stabgewölbe, das sich dekorativ über den Gastraum spannt. Ein mathematisch äusserst komplexer, aber keineswegs nüchterner Entwurf. Wir trafen den sympathischen Geometrie-Spezialisten in seinem Zürcher Atelier und sprachen mit ihm über Präzision, Fleissarbeit, Ideen-Recycling und seinen Vater.

Interview Susanne Lieber | Fotos Juliet Haller (Amt für Städtebau Zürich)


Herr Roth, zunächst einmal die grundsätz­liche Frage: Warum wurde überhaupt ein Gewölbe in die Fischerstube gebaut?
Das Dach der Fischerhütte sollte – wie bereits 1939 – in alter Manier mit Schilf gedeckt werden. Dazu braucht es ein hinterlüftetes Kaltdach. Um das Restaurant aber künftig auch heizen und somit ganzjährig nutzen zu können, musste ein in sich geschlossener Raum geschaffen werden.

War von Anfang an klar, dass es sich dabei um ein Stabgewölbe handeln soll?

Ursprünglich hatte Patrick Thurston ein elliptisches Gewölbe aus Lehm vorgesehen. Doch aus raumakustischen Gründen kam er davon ab. Patrick hatte mich dann gefragt, ob ich ihm helfen könnte, eine neue Kuppel zu entwickeln. Zunächst hatten wir über ein Faltwerk diskutiert, um eine Schallfokussierung zu verhindern. Damit streut man den Schall in alle Richtungen. Die Oberflächen hätten dazu aber aus einem schallabsorbierenden, gelochten Material bestehen müssen. Wir entschieden uns stattdessen für ein durchbrochenes Gewölbe, das nur einen optischen Raumabschluss bildet. Die eigentliche Decke samt schallschluckenden Elementen und Technik wie Sprinkleranlage befindet sich darüber.

Wie sind Sie beim Entwurf des Stabgewölbes vorgegangen?

Zunächst musste eine Grundform gefunden werden. Klassischerweise bildet ein Gewölbe über einem rechteckigen Grundriss ein Kreuzgewölbe. Wir wollten allerdings keine Kanten, sondern eine kontinuierliche Fläche wie ein Kissen. Ich habe zunächst ein zweidimensionales geometrisches Grundmuster aus kongruenten Flächen entwickelt. Das haben wir dann auf eine elliptisch gewölbte Fläche projiziert. So ist ein Polyeder entstanden, dessen Flächen aber nicht mehr kongruent sind. Die insgesamt 336 Flächen werden jeweils als Holzrahmen definiert (228 dreieckige Rahmen, 8 viereckige Rahmen), die zusammengefügt werden. Sämtliche Holzteile des Gewölbes laufen konisch zu, das heisst, ihre Flächen schneiden sich alle in einem einzigen Punkt – und der liegt hier etwa sechs Meter tief im See. Bei dem entstehenden Gewölbe handelt es sich also um ein echtes Gewölbe.

Sie sagen, die Rahmen sind durch die Projektion des Grundmusters auf die Gewölbefläche nicht mehr kongruent, also deformiert worden. Was genau hat das für die Konstruktion bedeutet?

Von den insgesamt 1016 Einzelstäben, aus denen das Gewölbe besteht, sind jeweils nur zwei Stäbe exakt gleich. Es gibt also 508 verschieden geformte Stäbe, die unterschiedlich schiefe Rahmen bilden. Der Konstruktionsaufwand für das Gewölbe war demnach gewaltig. Die Entwicklung des geometrischen und mathematisch sehr aufwendigen Grundmusters allein hat schon zwei Monate gedauert. Die einzelnen schiefen Rahmen zu berechnen und zu konstruieren, war dann nochmals eine ganz andere Geschichte. Eine verrückte Geschichte?…

Erzählen Sie uns diese doch bitte!

Ich habe alle 508 unterschiedlichen Stäbe – alle schief und mit unterschiedlichen Winkeln – selbst am Computer gezeichnet! Normalerweise würde das ein Programmierer machen. Diesen hätte ich aber nicht nur selbst bezahlen müssen, sondern ich hätte damit vor allem auch die Kontrolle abgegeben. Das wollte ich nicht. Also habe ich gedacht: Wenn ich ganz fleissig bin, könnte ich es in zwei Monaten schaffen, alle 508 Stäbe selbst zu zeichnen, damit man sie später an einer CNC-Fräse präzise fertigen kann. Das habe ich letzten Winter dann auch gemacht: Ich bin jeden Tag ins Atelier gekommen. Pro Stab habe ich etwa 20 Minuten benötigt, inklusive Einzeichnen der einzelnen Bohrungen für die Eschendübel und dergleichen. Ich durfte keinen einzigen Fehler machen! Die Zwischenplatten aus MDF habe ich ebenfalls einzeln gezeichnet. Das war eine sehr meditative Arbeit. Dazu habe ich Musik von Johann Sebastian Bach gehört.

Könnten Sie die Konstruktion noch etwas näher erklären?

Drei beziehungsweise vier Einzelstäbe bilden jeweils einen schiefen Rahmen. Diese sind an den Ecken mit speziellen, selbstspannenden Verbindungsbeschlägen (Tenso) zusammengesteckt und verleimt. Zur Fixierung benötigte es also keine Schraubzwingen. Später wurden die fertigen Rahmen nur nebeneinandergesetzt. Dazwischen bilden neun Millimeter starke MDF-Platten, die die Kraft von Rahmen zu Rahmen übertragen, schöne Schattenfugen. Das ganze Konstrukt ist in sich sehr steif und selbsttragend, es hält allein durch die Schwerkraft. Schrauben wurden keine verwendet. Die einzelnen Rahmen sind allerdings mit Eschendübeln verbunden, was aber keinerlei statische Gründe hat, sondern nur dazu diente, die Rahmen bei der Montage in exakte Position zu bringen – damit bis zum Schlussstein alles genau passt. Man könnte die Dübel theoretisch jetzt einfach wieder rausnehmen, ohne dass was passiert.

Wie ist eigentlich das Grundmuster für das Stabgewölbe entstanden?

Das ist eine lustige Geschichte. Im Grunde ist das Muster ein Recyclingprodukt: Vor einigen Jahren hatte ich für Herzog & de Meuron ein Projekt gemacht. Das Architekturbüro hatte damals einen Wettbewerb gewonnen für eine Moschee in Abu Dhabi – mit einem riesigen Gebetsraum für 5300 Gläubige. Die Moschee war damals bereits im Bau, als man merkte, dass der Entwurf nicht funktionierte. Es gab einen Baustopp und eine neue Ausschreibung. Herzog & de Meuron sollte dann das Projekt übernehmen und weiterentwickeln. Die Kuppeln im Gebetsraum standen bereits auf Stützen, die auf Wunsch des Scheichs auch nicht mehr geändert werden durften. Um im Nachhinein diese Stützen innerhalb des neuen Entwurfs zu legitimieren, sollte ich für die Kuppel ein Muster entwerfen, das diese Stützen einbezieht. Ich habe unendlich lange daran gearbeitet. Leider ist das gesamte Projekt am Ende gescheitert. Ich war sehr enttäuscht. Als dann die Anfrage für die Fischerstube kam, habe ich mich gefreut und dachte mir: Hey, das ist ja eine ganz ähnliche Aufgabe. Ich muss wieder für einen rechteckigen Grundriss ein Muster kreieren und dieses auf ein Gewölbe übertragen. In Anlehnung an das Muster von Abu Dhabi, das ebenfalls mehrheitlich aus Dreiecken bestand, konnte ich also daraus etwas Neues für die Fischerstube machen.

Mit etwas Fantasie kann man in dem Muster sogar Tierfiguren erkennen.

Ja, es gibt jede Menge zu entdecken. Neben einfachen Parallelogrammen, Rechtecken und Dreiecken auch Fische, Schnecken, Schildkröten, Schlangen, Spechte und allerlei Gewürm. Ich habe immer gesagt: Wenn jemand das Pech hat, beim Essen ein langweiliges Gegenüber zu haben, dann muss er nur nach oben schauen. (lacht)

Aus welchem Holz besteht das Stabgewölbe?

Aus Weymouths-Föhre, einem Holz, das hier nur selten genutzt wird. Ursprünglich kommt es aus den USA und wurde im 19. Jahrhundert in die Schweiz gebracht und hier angebaut. Das Holz ist wunderbar: Es ist nicht nur schön und hat praktisch keine Äste, es ist auch relativ leicht und dennoch druckfest. Und es riecht herrlich – bei einem Restaurant ist das schliesslich auch wichtig. Die Oberfläche wurde nur gelaugt und geseift, die Poren sind offen.

Wie war für Sie der Moment, als alles montiert worden ist?

Ich war sehr nervös. Auf dem Computer hatte zwar alles perfekt zusammengepasst, aber ob das dann auch tatsächlich alles funktioniert? Die Montage ging am Schluss so schnell, dass ich leider den Moment verpasst habe, als der Schlussstein gesetzt wurde. Als ich ankam, war schon alles fertig. Das Team der Schreinerei Bach Heiden hat perfekte Arbeit geleistet. Es war ein gutes Gefühl, zu sehen, dass alles geklappt hat! Einen Plan B hätten wir auch nicht gehabt. (lacht)

Wie hat denn das Hochbauamt als Auftrag­geber auf das Stabgewölbe reagiert?

Anfangs war das Hochbauamt irritiert, fragte, was das kosten würde und ob man das nicht einfacher machen könnte. Es gab also erst Widerstand. Patrick hatte aber gemeint, es müsse genau so sein. Mit der Zeit hat sich das Hochbauamt daran gewöhnt und hatte sogar Freude daran. Jetzt ist das Stabgewölbe das Markenzeichen der Fischerstube.

Wenn Sie Bilanz ziehen: Wie waren das Projekt und die Zusammenarbeit mit dem Architekten Patrick Thurston?

Für mich ist das Ganze eine sehr gelungene Sache. Ich bin froh, dass das Gewölbe so schön aussieht und alles geklappt hat. Die Zusammenarbeit mit Patrick war wunderbar. Er hat mir den Rücken komplett freigehalten, sodass ich mich nur um mein Holzgewölbe kümmern konnte. Patrick ist ein Perfektionist. Und ein Architekt, der vom Material her denkt. Er hat ein unglaubliches Wissen über Holz. Patrick hat mich sehr an meinen Vater, Emil Roth (1893–1980), erinnert. Er war ebenfalls Architekt – und einer der Pioniere der modernen Architektur in der Schweiz. Er hat immer gepredigt, man solle möglichst viele Arbeitsprozesse von der Baustelle in die Werkstatt verlegen. Denn dort könne man am präzisesten arbeiten und müsse die vorgefertigten Teile dann nur noch vor Ort zusammenbauen. Genau so haben wir es bei der Fischerstube auch gemacht. In Patrick habe ich ein stückweit meinen Vater wiedererkannt. Das hat mich sehr berührt. 

Urs Beat Roth

Urs Beat Roth ist 1946 geboren und begeisterte sich schon früh für Mathematik. Vor allem für Geometrie. Trotzdem entschied er sich gegen ein entsprechendes Studium, da Geometrie letztlich nur ein sehr kleiner Teil der Mathematik ist. Stattdessen ging Roth an die ETH Zürich, um Architektur zu studieren. Nach seinem Diplom 1973 folgten ein Nachdiplomstudium und eine Assistenzstelle am Lehrstuhl von Prof. Heinz Ronner. 1979 bis 1992 führte er zusammen mit Xaver Nauer ein eigenes Architekturbüro. 1991 gründete er das Atelier für Konkrete Kunst. 1981 bis 2011 war er zudem als Dozent tätig für Raum und geometrisch-konstruktives Gestalten an der Schule für Gestaltung in Zürich. Roth ist spezialisiert auf die Entwicklung mathematisch
generierter Formen und Muster und arbeitet mit namhaften Architekturbüros zusammen.

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