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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

03/2021 Raum und Kilma

FOKUS.THEMA

Holz, Stroh, Kalk

Es ist der Dreiklang aus Holz, Stroh und Kalk, der die Siedlung «Im Vogelsang» auf der Materialebene wohl am besten beschreibt. Mit dem Einsatz natürlicher Werkstoffe in den drei Reihenhauszeilen trägt der Entwurf des Ateliers Schmidt der ökologischen Nachhaltigkeit Rechnung. Auf dem ehemaligen Fabrikareal trifft urbane Verdichtung auf dörfliches Idyll – in der ersten Strohballenhaus-Siedlung der Schweiz.

Text Sandra Depner, Atelier Schmidt | Fotos Damian Poffet, Beat Brechbühl | Pläne Atelier Schmidt

 Das erste mit Stroh gedämmte Haus entwarf das Architekturbüro Atelier Schmidt bereits Anfang der 2000er Jahre – in Disentis, Graubünden. Nicht weit vom Büro in Trun entfernt, in dem Vater und Sohn an Strohballenhäusern tüfteln. Wer hätte gedacht, dass dieses Strohhäuschen zwanzig Jahre später einmal der Anstoss dafür sein könnte, dass im Zürcher Oberland gleich eine ganze Siedlung aus Strohballenhäusern entstehen könnte? Denn die Bauherrin besichtigte einst besagtes Haus – und erinnerte sich Jahre später, just als die Bauaufgabe bevorstand, daran zurück.


Mit der Strohballensiedlung «Im Vogelsang» in Nänikon (ZH) ist ein wegweisendes Wohnprojekt für Mensch und Umwelt entstanden. Die drei Mehrfamilienhäuser bestehen aus Raummodulen – vorgefertigte Holzrahmen, mit Stroh gedämmt und aussen mit Kalk verputzt.


Eine gute Dämmung ist wie ein guter Schlafsack
Warum ausgerechnet Stroh? Das liegt an einer eindrücklichen Erfahrung, die Vater Werner und Sohn Paul Schmidt teilen: die kalten Winternächte im Militär. Paul Schmidt: «Wenn man in einem guten Schlafsack schläft, so übersteht man, ohne zu frieren, auch eine kalte Winternacht. Schon mein Grossvater und mein Vater haben sich dann gefragt, wie so ein Schlafsack für ein Haus aussehen könnte.» Antworten auf eine gute und nachhaltige Dämmung fanden sie in Amerika. Werner Schmidt besuchte einen Strohbaukurs und nahm sein Wissen mit in die Schweiz. Und Sohn Paul Schmidt konnte nach seinem Architekturstudium dieses Know-how in die erste Strohballenhaus-Siedlung der Schweiz einfliessen lassen, die unter seiner Projektleitung 2020 fertiggestellt wurde.


Für den Ersatzneubau sicherte sich das Atelier Schmidt mit seinem Vorprojekt 2016 den Direktauftrag. Die Zaugg AG Rohrbach trat als ausführender Holzbaubetrieb auf, während die B3 Kolb AG für die Holzbau-, Massivbau- und Brandschutzingenieurleistung verantwortlich war. Die Fertigstellung des vorgefertigten Holzbaus erfolgte bereits 18 Monate nach Beginn der Abbrucharbeiten.

Die Überbauung besteht aus drei eigenständigen Baukörpern mit insgesamt 28 Wohneinheiten unterschiedlichster Grösse. Verschiedene Wohnungstypen, vom Einzimmerstudio bis zum mehrgeschossigen Reihenhaus mit fünfeinhalb Zimmern – mal zur Miete, mal als Wohneigentum – sind dabei entstanden. Das Konzept der verschiedenen Wohnformen garantiert eine bunte Durchmischung der Bewohnerschaft bestehend aus Familien, Paaren, Senioren oder alleinstehenden Personen. Dabei wurde im Konzept die gesetzliche Maximalausnutzungsfläche voll ausgeschöpft.


Der Zuckerbäcker: Vom Südtirol ins Zürcher Oberland

Sitzbänke unter Bäumen, eine Grillstelle beim Eingang zur Siedlung, dicht bewachsene Hochbeete und ein grosszügiges Sonnendeck: All diese Orte zeugen von der Gemeinschaft und dem Leben auf dem Areal. Früher hingegen dominierte auf dem ehemaligen Fabrikgelände das süsse Handwerk: Schokolade, Marzipan und Zucker. Die Bauherrschaft, die Bombasei AG, ist ein seit 1913 auf Zuckerdekor spezialisiertes Familienunternehmen. Der ursprünglich mit dem Gründer und Zuckerbäcker Franz Bombasei in Südtirol verwurzelte Betrieb siedelte mit der folgenden Unternehmergeneration Mitte des 20. Jahrhunderts um – hierhin ins Zürcher Oberland nach Nänikon am Greifensee. Über Jahrzehnte hinweg gingen die Marzipanschilder, bedruckten Schokoladenplatten oder Marzipanröschen an Kunden in der Schweiz und weltweit. Im Zuge einer Neuausrichtung wurde die Produktion am Standort in Nänikon 2017 stillgelegt. Das gab den Anstoss für die Entwicklung des einstigen Fabrikareals zur ersten Strohballenhaus-Siedlung der Schweiz.

«Im Vogelsang» ist inmitten des alten Baumbestands platziert und bildet ein Idyll mit urbanem Charakter. Nänikon am Greifensee ist reich an Naherholungsgebieten und Routen für Sparziergänge oder Velotouren. Mit 2600 Einwohnern versteht sich das Bauerndorf als grösste Aussenwacht Usters. Von der Siedlung aus sind der S-Bahnhof, das Schiff und der See in wenigen Minuten zu Fuss erreichbar. Ideale Verkehrsanschlüsse bieten die Autobahnen nord- wie südwärts.

In der Schnittachse der drei eigenständigen Baukörper bildet sich ein gemeinsamer Treffpunkt, was das Gemeinschaftsleben unter den Nachbarn fördern will. Die öffentlichen Räume schaffen dörfliche Strukturen in einer für das Bauerndorf Nänikon eher verdichteten Wohnstruktur. Der alte Baumbestand, in den sich die Neubauten einfügen, sorgt für ein ruhiges Klima und schafft Räume für den Rückzug wie auch für das Zusammenkommen. Die Orte des Zusammentreffens sind beispielsweise bei den gemütlichen Bänken unter den Bäumen, am Brunnen, an einem grossen, zu einem Tisch gezimmerten alten Tannenbaum, der einst auf dem Areal stand. Oder eben die Briefkästen, die zentral für alle Bewohner an einem der beiden Erschliessungskerne organisiert sind. Hier trifft man sich, hier kommt man ins Gespräch.

Die jeweiligen Wohnungen sind ebenerdig oder über die beiden Treppenhäuser und die Laubengänge erschlossen. Der in das massive Treppenhaus integrierte Lift führt auch direkt in die Tiefgarage. Im zweiten Obergeschoss sind die Wohnungen mit einem Sonnendeck miteinander verbunden. Die Stützpfosten des Sonnendecks im Erdgeschoss erinnern an einen Wald und bilden im Herzen der Überbauung einen geschützten Begegnungsraum für die Bewohner.


CO2-Speicher im Bau: 420 Tonnen Stroh und 1800 Kubikmeter Holz

Nachhaltigkeit im Dreiklang, könnte man sagen, beherrscht das Architekturkonzept: sozial, kulturell und ökologisch. Eine soziale Nachhaltigkeit, die die Begegnung innerhalb der Nachbarschaft in den zahlreichen öffentlichen Räumen fördert. Es sind viele Details, die hier der Anonymität in einer verdichteten Bebauung entgegentreten. Und gleichzeitig bieten halböffentliche und private Räume Gelegenheit für Rückzug. Es war denn auch das Miteinander, das der Bauherrschaft wie auch dem Architekturbüro ein besonderes Anliegen war und den ganzen Prozess hindurch die Entscheidungen in Planung und Realisation prägte.

Im Hinblick auf die kulturelle Nachhaltigkeit galt es für das Atelier Schmidt, den Spagat zwischen verdichtetem Wohnen auf der einen und ländlichen Qualitäten eines Dorfes auf der anderen Seite zu meistern. Beziehungsweise: das beste von beiden Seiten miteinander zu verbinden.

Zuletzt und wegweisend in vielerlei Hinsicht für das Architekturkonzept und die Materialwahl ist die ökologische Nachhaltigkeit zu nennen. So galt es, beim Bau so wenig graue Energie wie möglich zu verursachen und das Projekt für seine Nutzung mit einer geringen Betriebsenergie zu konzipieren. Dabei haben sich die Verantwortlichen dem Ziel einer hohen Lebensqualität verschrieben – durch den Einsatz ausgesuchter, natürlicher Materialien und eine detailreiche Gestaltung der Wohnräume wie auch der Aussenräume. Mit der Wahl nachhaltiger und natürlicher Baustoffe wie Stroh, Holz und Kalk wird viel Wert auf einheimische Materialien gelegt. Und damit die Bewohner stets daran erinnert werden, wie sie wohnen, gibt ein Fenster im Inneren den Blick auf die Strohdämmung frei.

Die konsequente Ausrichtung auf Nachhaltigkeit hilft den Bewohnern, ihren ökologischen Fussabdruck zu senken und langfristig Kosten zu sparen. Der Gesamtenergiebedarf für die Erstellung, den Betrieb und die Entsorgung der Häuser wird mithilfe der natürlichen Baumaterialien auf ein Minimum gesenkt. Die 75 Zentimeter dicke Strohhülle (U-Wert 0,07 W/m2K) umgibt die Wohnungen wie ein wärmender Mantel und garantiert künftig geringe Heizkosten bei konstant gutem Wohnklima. Für die gesamte Überbauung wurden insgesamt 420 Tonnen Stroh verbaut. Stroh beziehungsweise Getreide wächst sehr schnell nach, was bedeutet, dass es in seinem Wachstumsprozess effizient CO2 speichert. Das führt zu einer negativen CO2-Bilanz des Baustoffs. Ähnlich verhält es sich mit dem nachwachsenden Baustoff Holz. Indem im Tragwerk nicht konventionell mit Beton, sondern mit rund 1810 Kubikmeter Holz gearbeitet wurde, konnte weiteres, der Atmosphäre entzogenes CO2 verbaut werden. Zudem erlaubt der aussergewöhnlich hohe Dämmwert des Wandaufbaus, im späteren Betrieb den Heizenergiebedarf gering zu halten – trotz Verzicht auf eine Komfortlüftung. Dank der Stromversorgung über die Fotovoltaikanlage auf dem eigenen Dach können die Bewohner über eine Eigenverbrauchsgemeinschaft den selbst produzierten Solarstrom günstig beziehen.

Moderner Holzbau: Vorgefertigt und modular

Der Grundriss der Häuser ist modular konzipiert und im späteren Verlauf an die Wünsche der Stockwerkeigentümer und Reihenhausbesitzer angepasst worden. Das Bauwerk wurde in Holzrahmen- und in Raummodulbauweise vorfabriziert. Die Aussenwände bestehen aus vorgefertigten Holz-Stroh-Elementen: In den Rahmen aus Brettsperrholzelementen sind die getrockneten Strohballen vollflächig ausgelegt und abschliessend gekalkt worden. Der Aussenputz besteht ebenfalls aus naturweissem Kalk sowie Abdeckbrettern aus Lärche. Die Innenwände bestehen aus Brettsperrholz Fichte/Tanne, wobei die Wohnungstrennwände sowie die Wohnungsdecken mit erhöhten Schallschutzanforderungen erstellt worden sind (gemäss SIA 181). Den Wohnungen ist eine tragende Balkonkonstruktion aus Fichte vorgestellt. Das Sheddach (45°), ebenfalls aus vorgefertigten Holz-Stroh-Elementen, ist hauptsächlich eingedeckt mit Fotovoltaikmodulen, punktuell mit Eternitplatten. Der Laubengang bildet sich aus einer Stützkonstruktion in Brettschichtholz und einer Geländerabdeckung – beides aus Lärche. Zur Absturzsicherung dienen Seilnetze, der Gehbelag ist aus gerillten Betonelementen. Auf der zentralen Sonnenterrasse kommt hingegen wieder ein Rost aus Lärche zum Einsatz. Die vorgefertigten geschosshohen Raummodule und Wandelemente wurden im Winter in der Werkhalle der Zaugg AG Rohrbach ausgebaut und verputzt. Dank dieses hohen Vorfertigungsgrads konnten die Wohnungen nach nur 16 Monaten Bauzeit bezogen werden.
Die modulare Konstruktionsweise ist auch nach Abschluss der Bauarbeiten von aussen wie von innen ablesbar. An der Fassade kennzeichnen horizontale und vertikale Lärchendeckbretter die Modul- und Elementstösse und interpretieren auf diese Art den Fachwerkbau neu. Im Inneren bleibt das Raummodul in seiner Brettsperrholzkonstruktion roh sichtbar und beherbergt gleichzeitig alle technischen Installationen.

«Die grösste Herausforderung in diesem Projekt war sicher der Umgang mit dem nicht alltäglichen Baustoff Stroh», sagt Holzbauingenieur Stefan Signer, B3 Kolb AG. Dies erforderte neue Konstruktionsansätze, um alle Anforderungen bezüglich Brandschutz, Witterungs- und Feuchteschutz, Statik sowie Produktion und Montage zu erfüllen. Es gab viele Schnittstellen zu lösen, da verschiedene Systeme angewendet wurden. Sei dies nun zwischen Holz- und Massivbau oder auch innerhalb des Holzbaus, da Bereiche in Raummodulbauweise erstellt wurden und andere in Elementbauweise. «Von grossem Vorteil war, dass das Holzbauunternehmen – die Zaugg AG Rohrbach – viel Erfahrung mit Kran- und Logistikarbeiten hat. Denn die voll ausgebauten Raummodule waren sehr schwer», so Signer.

Lindenstamm erinnert an slten Baumbestand
Wer die Siedlung «Im Vogelsang» betritt, dem fällt eine ganz besondere Stütze auf, die unterhalb der Laubengänge angebracht ist: ein Lindenstamm. Ursprünglich waren im Entwurf überall die gleichen Brettschichtholzstützen aus Lärche geplant. Das änderte sich, als im Laufe der Bauarbeiten eine Linde gefällt werden musste. So wurde deren Stamm eingesetzt. Statisch sei dies durchaus machbar, da dieser Stamm die Lasten ohne Probleme aufnehmen könne. Holzbauingenieur Signer: «Konstruktiv sind jedoch ein paar Grundsätze zu beachten. Zum Beispiel, dass der Stamm nicht direkt auf dem Boden aufliegen sollte, damit er die aufgenommene Feuchte wieder abgeben kann.»

Der Lindenstamm ist eines der vielen Details, die die Siedlung «Im Vogelsang» zu einem besonderen Leuchtturmprojekt im verdichteten Siedlungsbau machen. Die Bombasei AG hat mit dem Ersatzneubau einen Wandel auf dem einstigen Fabrikareal vollbracht. Vom süssen Handwerk zum Siedlungsbauer, vom Zucker zum Stroh – und zum Holz.

Zaugg AG Rohrbach

1936 gründete Ulrich Zaugg sein Unternehmen in Ursenbach (BE). Heute, mehr als 85 Jahre später und einen Ort weiter, ist der Betrieb noch immer in Familienhand. Mittlerweile wird das Unternehmen in Rohrbach von seinen Enkeln Stephan Zaugg und Martin Zaugg geführt und beschäftigt derzeit über 130 Mitarbeitende. zaugg-rohrbach.ch


Atelier Schmidt GmbH, Trun (GR)

Architekt Werner Schmidt gründete 1988 das Architekturbüro Atelier Schmidt GmbH in Trun.
2017 übernahm Sohn Paul Schmidt (Foto), Architekt FH B. Sc. (HTW Chur), das Büro. Nachhaltigkeit ist das zentrale Element jeder ihrer Bauaufgaben. So lautet die Firmenphilosophie: «Die Verwendung von natürlichen Baumaterialien wie Holz, Lehm, Stroh und Kalk hilft uns, die notwendige Primärenergie zur Gebäudeerstellung möglichst gering zu halten. Gleichzeitig versuchen wir jede Bauaufgabe so zu lösen, dass ein Gebäude seinen Bewohnern auch in Zukunft nützlich scheint.» atelierschmidt.ch


Das Projekt – die Fakten

Objekt: Siedlung «Im Vogelsang»,
3 Mehrfamilienhäuser mit 28 Wohnungen
Standort: Nänikon (ZH)
Fertigstellung: 2020
Bauherrschaft: Bombasei AG, Nänikon
Architektur: Atelier Schmidt GmbH, Trun (GR)
Holzbau: Zaugg AG Rohrbach, Rohrbach (BE)
Holzbau-, Massivbau- und Brandschutzingenieurleistungen: B3 Kolb AG, Romanshorn (TG)
Gebäudevolumen (SIA 416): 16 000 m3
Nettogeschossfläche (SIA 416): 4921 m2
Holz: 1513 m3 Brettsperrholz, 86 m3 Brettschicht-
holz, 117 m3 Platten DSP/Massivholz, 35 m3
Lärchenschalung, 23 m3 Weichfaser, 1 m3 Kerto, 19 m3 Buchenplatten, 16 m3 Massivholz

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