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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

03/2021 Raum und Kilma

Wohn.kultur

Leben in der Lorraine

Mehr Dorf als Stadtquartier: Das ist die Lorraine in der Bundesstadt. Mit der Sanierung eines Fachwerkhauses hat die Stadt Bern als Bauherrin in den Erhalt wertvoller Bausubstanz investiert und das Quartier mit bezahlbarem Wohnraum bereichert.

Text SD, Kast Kaeppeli Architekten BSA SIA, Bern und Basel | Fotos Rolf Siegenthaler | Pläne Kast Kaeppeli Architekten BSA SIA, Bern und Basel

 

Urban und weltoffen, ein Ort zum Arbeiten, mehr aber zum Wohnen: Das ist die Lorraine, ein hippes Stadtquartier nördlich des Berner Stadtzentrums. Hier hat die Stadt Bern im Rahmen der Quartierplanung bestehenden Wohnraum im erhaltenswerten Bauinventar der Stadt saniert und erweitert. Analog der Schwerpunktthemen, die sich das Stadtplanungsamt der Bundeshauptstadt für die Dekade ab 2010 gesetzt hat: ein planerisches und städtebauliches Konzept, damit die Lorraine und ihr Charakter erhalten bleiben – «definiert durch ein kleinteiliges Nebeneinander von volumetrischen und nutzungsmässigen Diversitäten und Ni-schen.» Bei dem Objekt an der Jurastrasse handelt es sich um das einzige einer Gebäudegruppe, dessen Riegkonstruktion noch vollständig sichtbar ist.

Das Fachwerkhaus wurde im Jahr 1877 erstellt und ist Teil eines am Aarehang gelegenen Ensembles, das mehrheitlich von kleinmassstäblichen, ländlich-spätklassizistischen Riegbauten geprägt ist. Die Denkmalpflege hatte das Fachwerkhaus als erhaltenswert eingestuft und die Sanierung sowie dessen Erweiterung begleitet. Der architektonische Entwurf und das Konzept stammen von Kast Kaeppeli Architekten aus Bern. Die Planung des Holzbaus erfolgte durch Indermühle Bauingenieure aus Thun, die Ausführung von der Holzbau Partner AG aus Stettlen (BE). Seit 2019 wird das Mehrfamilienhaus von früheren und neuen Mietern wieder bewohnt.

Der Baukörper ist giebelständig zur Strasse orientiert. Da sich diese hier wegen einer Abzweigung und einem Wendebereich weitet, eröffnet sich eine kleine Platzsituation, was dem Fachwerkhaus an diesem Ort eine gewisse Ausstrahlung verleiht. Südlich des Vorplatzes bei der Laubentreppe befindet sich ein grosszügiger Gartenbereich. Heute wie früher erschliesst als typisches, identitätsstiftendes Element eine überdachte Laubentreppe die Obergeschosse. In den drei Wohngeschossen war vor dem Umbau je eine kleine Zweizimmerwohnung mit Küche, Schlaf- und Wohnzimmer auf 34 Quadratmetern. Die Sanitärräume waren extern organisiert. In einem an der Aussentreppe angebauten separaten Abortturm befanden sich zwei Toiletten und eine Dusche. Zwischen dem Gebäude und der hangseitigen Stützmauer existierten mehrere einfache Kleinbauten mit Nebennutzungen.


Quartierverträgliche Verdichtung

Das Ziel der Baumassnahmen waren die Beseitigung der baulichen Mängel, die energetische Optimierung des Gebäudes und die Steigerung der Wohnqualität durch eine räumliche Neuorganisation. Im Bestand wurden die Decke über dem Untergeschoss sowie diverse Balken in der Riegkonstruktion aufgrund von Feuchtigkeitsschäden ersetzt.

Das sanierte Fachwerkhaus ergänzt der neue Anbau in Rahmenbauweise, bestehend aus Hohlkasten- und Schalenelementen. So sind im Erdgeschoss eine 3,5-Zimmer-Wohnung und im Obergeschoss eine 4,5-Zimmer-Wohnung geschaffen worden. Durch die Neuorganisation und den Anbau war es einerseits möglich, zeitgemässe Wohnungsgrössen und eine quartierverträgliche Verdichtung zu erzielen. Andererseits konnte so die aussenliegende Erschliessung über die prägnante Laubentreppe bis ins Obergeschoss beibehalten werden.

Die Erweiterung ist im rückwärtigen Bereich zwischen Bestand und Hangstützmauer eingepasst und entwickelt sich bis in den südseitigen Hof. Das Satteldach des Neubauteils schliesst unterhalb des bestehenden Hauptdachs an die Dachkonstruktion der Laubentreppe an. Dadurch bleibt der Altbau in seinen Proportionen deutlich ablesbar.

Wegen der kleinteiligen Struktur im kreuzförmig unterteilten Grundriss sind die Schlafräume und Nasszellen im Altbau angeordnet. Im offenen und grosszügigen Raum des Anbaus findet das Wohnen, das Kochen und das Essen statt. Das Entrée verbindet über eine Öffnung in der ehemaligen Fachwerkfassade den Altbau- mit dem Neubaubereich.


Trotz der fast identischen Grundrisse im Erd- und Obergeschoss schaffen die Fensteröffnungen, die auf die Topografie reagieren, unterschiedliche, einzigartige räumliche Bezüge und Stimmungen. Am Ort der einstigen Laubentreppe führt eine neue, etwas steilere Treppe ins Dachgeschoss, wo sich neben dem Vorraum auch ein grosses Schlafzimmer und eine Dusche befinden. Zusätzlich zu den gedeckten Eingangsbereichen der Laube haben beide Wohnungen einen eigenen Aussensitzplatz erhalten.


Vorbild Fachwerkhaus
Die Materialisierung des Anbaus orientiert sich am bestehenden Fachwerkhaus. Die Innenseiten der Aussenwände sind mit einem grauen Kassettentäfer bekleidet. In diesem hellgrauen Farbton sind sämtliche Einbauten wie Fenster, Türen, Schränke und auch die Küche gehalten. Die Innenwände sind mit einem Glasvlies tapeziert und weiss gestrichen. Sockelleisten und -bretter wirken als verbindendes Element zwischen den Türen und bilden den Übergang zum Riemenboden, der geschliffen und geölt ist. Im Erdgeschoss wurde ein hochwertiger Riemenboden verbaut, der aus einem anderen Gebäude stammt. Badezimmer und Entrée sind mit Plattenbelägen ausgestattet. Im Neubauteil ziert die weisse Holzschalung Wände und Decken, am Boden dominiert grossformatiges Eichenparkett. Die Riegstruktur der nun innenliegenden Fassade aus Fichten-/Tannenholz orientiert sich am Farbspektrum der Innenräume. Typische Gestaltungselemente aus dem Bestand – wie beispielsweise die gestemmten Wohnungstüren mit Glaseinsätzen, die Sprossenfenster und die feinen, geprägten Türgriffe – sind beibehalten worden. Im Dachgeschoss konnte das einzige verbleibende originale Fenster dank einer sorgfältigen Restaurierung erhalten werden. Es befindet sich nun in der innerhalb des Dämmperimeters liegenden Ostfassade. Wo zuvor mit einzelnen Holzöfen geheizt wurde, wärmen heute die an die Erdsonden-Wärmepumpen angeschlossenen Röhrenradiatoren die Räume, im neuen Anbau kommt eine Bodenheizung zum Einsatz.

Anbau wie ein Schopf
Die Fachwerkfassade wurde sorgfältig saniert und in der ursprünglichen Farbigkeit gestrichen. Gestalterische Herausforderungen wie die Absturzsicherungen bei den Fenstern oder der wegen der zusätzlichen Dämmung breiter gewordene Dachrand sind passend detailliert. Der Neubauteil ist mit thermobehandelter Kiefer verkleidet, die einheitlich mit einer braunen Lasur gestrichen ist. So nimmt sich der Anbau mit seiner Aussenschalung gegenüber des Bestands zurück. Mit der Kassettierung der Fassade wird Bezug auf die Fachwerkfelder des Bestands genommen, was der Fassade eine angenehme Kleinteiligkeit verleiht. Analog zur Fassade gestaltete Schiebeläden dienen als Sonnenschutz. Im geschlossenen Zustand verstärken sie das Bild eines an das Fachwerkhaus angebauten Schopfs und lassen eine spezielle Lichtstimmung im Innenraum entstehen. Dieser Idee kommt auch entgegen, dass jede Fassadenseite geschossweise nur genau eine Fensteröffnung aufweist und so der Eindruck der Zweigeschossigkeit vermieden werden kann.

Der Aussenraum gestaltet sich als eine dem Baujahr des Fachwerkhauses entsprechende Gartenanlage. Die mit Kies belegten Terrassenbereiche sind über einfache Stufen im Hang miteinander verbunden. Im schmalen, zur Strasse gewandten Gartenbereich wachsen junge Holunder- und Obstbäume, der südlich ausgerichtete, terrassierte Garten ist naturnah als Blumenwiese gestaltet. Auch der bestehende Palisadenzaun wurde erhalten und stellenweise repariert.

Durch die Sanierung und Erweiterung des Rieghauses ist es gelungen, das sich in einem schlechten baulichen Zustand befundene Wohnhaus zu neuem Leben zu erwecken. Gleichzeitig wird es den heutigen Anforderungen in puncto Wohnqualität, Ökologie und Denkmalpflege gerecht. Entstanden ist eine detailreiche Architektur, die auf die komplexe Topografie am steilen Hang spezifisch reagiert und auch limitierten Platzverhältnissen qualitative Wohnräume abgewinnt. 

Das Projekt – die Fakten

Objekt: Mehrfamilienhaus, Sanierung und Anbau
Standort: Bern
Fertigstellung: 2019
Bauherrschaft: Immobilien Stadt Bern
Architektur: Kast Kaeppeli Architekten BSA SIA, Bern/Basel
Holzbau: Holzbau Partner AG, Stettlen (BE)
Holzbauingenieur: Indermühle Bauingenieure, Thun (BE)
Schreiner: Remund Holzbau AG, Schwarzenburg (BE)
Baukosten: CHF 1,5 Millionen
Gebäudevolumen (SIA 416): 766 m3
Nettogeschossfläche (SIA 416): 270 m2
Holz: 10 m3 Konstruktionsholz Fichte/Tanne und Eiche,
Fassade aus thermobehandelter Fichte/Tanne
Auszeichnung: Best Architects Award 2021 in Gold,
Kategorie Wohnungsbau


Kast Kaeppeli Architekten BSA SIA, Bern und Basel

Thomas Kaeppeli (l.) und Adrian Kast gründeten 2008 ihr gemeinsames Büro Kast Kaeppeli mit Standorten in Bern und in Basel. Heute beschäftigen sie 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ihr Werk umfasst Umbauten historischer Gebäude sowie zahlreiche Schulbauten. Bezeichnend für ihre Arbeit ist die intensive Beschäftigung mit Typologien und mit dem Kontext des jeweiligen Ortes und Gebäudes. Die vorgefundenen Qualitäten werden weitergeführt, im Wissen eines geschichtlichen Bewusstseins neu interpretiert und in einen neuen Zusammenhang gebracht. Ihre Projekte und Bauten wurden mit Preisen wie Der beste Umbau, Best Architects Award in Gold und dem ATU PRIX ausgezeichnet. kastkaeppeli.ch


Holzbau Partner AG, Stettlen

Durch ein Management-Buy-out gründete Theo Schmid zusammen mit seinem Geschäftspartner Urs Wegmüller 2002 die Holzbau Partner AG. Der Holzbaubetrieb mit Zimmerei und Schreinerei bietet ein breites Angebot in den beiden Bereichen an. Der Betrieb beschäftigt 20 Mitarbeitende, davon fünf Lernende. Schmid ist Vizepräsident der Sektion Bern von Holzbau Schweiz. holzbau-partner.ch

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