Magazin FIRST

Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

04/2021 Hin und weg

FOKUS.THEMA

Mathematisches Feuerwerk

Einen Ersatzneubau in Anlehnung an ein historisches Gebäude zu planen, ist eine Gratwanderung: Wie eng muss man sich am Vorbild orientieren, wie weit darf man sich davon entfernen? Einer solchen Herausforderung stellte sich der Architekt Patrick Thurston mit seinem Entwurf für die neue Fischerstube am Zürichsee.

Text Susanne Lieber | Fotos Juliet Haller (Amt für Städtebau Zürich) | Pläne Patrick Thurston

 

Das Zürichhorn ist eine der beliebtesten Grünanlage in Zürich. Zurecht, schliesslich kommt hier zusammen, was den Ort zu einer der lebenswertesten Städte der Schweiz macht: Seezugang und Bergsicht. Vor allem im Sommer tummeln sich hier gleichermassen Touristen und Einheimische, Jung und Alt. Die einen sonnen sich auf der Wiese oder grillieren, die anderen flanieren auf der Promenade, gehen schwimmen, lauschen Stras­senmusikern oder beobachten vorbeischippernde Boote.

Das Gebäudeensemble direkt am Ufer – es umfasst das Restaurant Fischerstube, die Fischerhütte und ein Gartenbuffet mit grosser Terrasse – gehört hier seit Jahrzehnten zum idyllischen Bild dazu. Fischerstube und Fischerhütte entstanden bereits im Jahr 1939 anlässlich der Landesausstellung. Sie wurden jeweils auf Pfählen direkt ins Wasser gebaut. Einige Jahre später wurde das Gartenbuffet ergänzt.

Nach einem Brand der Fischerstube musste diese 1956 neu aufgebaut werden. Die Form blieb grundlegend erhalten, doch das einstige Schilfdach wurde durch Eternitschindeln ersetzt. Rund 50 Jahre später forderte die schlechte Bausubstanz ihren Tribut. Die Stadt Zürich entschied sich deshalb als Eigentümerin, die Fischerstube sowie das Gartenbuffet abzubrechen und einen Ersatz- beziehungsweise einen Neubau zu errichten. Die Fischerhütte hingegen sollte nur saniert werden, genauso ein kleiner Ententeich mit Bogenbrücke. 2009 rief das Hochbauamt der Stadt Zürich einen entsprechenden Wettbewerb aus, den das Berner Architekturbüro Patrick Thurston für sich entscheiden konnte.


Gleich und doch anders
Beim Ersatzneubau der Fischerstube galt von vornherein die Prämisse: Er muss mit dem Originalbau «wesensgleich» sein. Von Gesetzes wegen wäre ein kompletter Neubau direkt am Ufer des Zürichsees aufgrund der Freihaltezone nicht zulässig gewesen. Auch die Denkmalpflege hätte einem solchen Projekt nicht zugestimmt. Als Einschränkung empfand der Architekt Patrick Thurston diese Vorgaben jedoch nicht. Im Gegenteil. Für ihn lag genau darin der Reiz der Aufgabe: «Uns schien gerade diese Ambivalenz, im 21.?Jahrhundert einen Ort zu schaffen, der ‹im Wesen› auf 1939 zurückgeht, besonders herausfordernd.»

Im Entwurf lässt sich der Brückenschlag in die Vergangenheit und zum traditionellen Handwerk klar ablesen. Markantestes Merkmal bei dem Bau – einer Zimmermannskonstruktion aus Binderböcken, Wand-, Brüstungs-, Sturz- und Deckenelementen – ist sicherlich das Dach. Wie bereits 1939 wurde es mit Schilf eingedeckt. Und zwar von Spezialisten aus Dänemark, wo Schilfdächer auch heute noch als traditionelle Alternative zu Ziegeldächern gebaut werden. Die Brandschutzbehörden waren, man ahnt es schon, von der Idee mit dem Schilf nicht sonderlich begeistert. Schliesslich war die Fischerstube schon einmal abgebrannt. Doch am Entwurf hielt man fest.


Die Dacheindeckung mit Schilf setzte wie schon 1939 eine Kaltdachkonstruktion voraus. «Dabei wollten wir einen Weg finden, wie der Estrich als Kaltdachraum ohne technische Installationen vom grossen Schilfdach überspannt werden kann», resümiert Patrick Thurston und ergänzt: «Die Lösung lag darin, die Installationen in den mit Schindeln gedeckten Dachraum des Gartenbuffets zu verlagern.» Die Bauten sind mit einem unterirdischen Gang verbunden, in dem die In­frastruktur geführt wird.

Eine der prägnantesten Veränderungen zum Vorgängerbau von 1956 ist die neu positionierte Terrasse. Nach dem Brand wurde dem Gebäude auf der Vorderseite, also frontal zum See, eine Terrasse vorgelagert. Für die Denkmalpflege war jedoch klar: Der Originalbau hatte an dieser Stelle keine, der Ersatzneubau sollte demnach auch keine haben. Als Kompromiss wurde eine Terrasse seitlich der Fischerstube genehmigt, die nicht direkt mit dem Bau verbunden ist.

Unangefochtener Blickfang in der Fischerstube, deren Bauweise Minergie-ECO-Standard entspricht, ist das aufwendige Stabgewölbe an der Decke. Um dieses zu ent­wickeln, arbeitete Patrick Thurston mit dem Zürcher Mathematiker und Architekten Urs Beat Roth zusammen (mehr dazu siehe Interview S.?12/13). Der 75-Jährige ist seit vielen Jahren auf mathematisch generierte komplexe Muster und Formen für Kunst- und Architekturprojekte spezialisiert. Kritische Stimmen behaupten zwar, das markante Gewölbe lenke zu sehr vom Blick auf den See ab, doch das relativiert sich, wenn man als Gast erst mal am Tisch sitzt.

Eines lässt sich zu diesem Bauprojekt aber definitiv sagen: Es war keine einfache Aufgabe, das einstige Landigebäude wieder auferstehen zu lassen und seinen Charakter zu wahren, gleichzeitig den Bau aber ins Hier und Jetzt zu setzen – als das, was er sein soll: ein moderner Gastronomiebetrieb.

Was der Architekt Patrick Thurston selbst zu seinem Entwurf meint? Sein Statement dazu: «Uns war wichtig, einen authentischen Ort zu schaffen, der durch seine handwerkliche Architektur geprägt ist.» Und das ist hier wahrlich gelungen – Ziel erreicht. 

Das Projekt – die Fakten

Objekt: Restaurant Fischerstube
Standort: Bellerivestrasse 160, Zürich
Wettbewerb: 2009
Baubeginn: Oktober 2019
Fertigstellung: Juni 2021
Inbetriebnahme: Juli 2021
Bauherrschaft: Stadt Zürich
Architektur: Patrick Thurston, Bern
Holzbau: Kübler AG Holzbau, Oetwil a. S. (ZH)
Holzbauingenieur: Indermühle Bauingenieure GmbH, Thun
Schreinerei: Forster AG, Oberburg (BE);
Hauri AG, Staffelbach (AG)
Schreinerei (Stabgewölbe): Bach Heiden AG, Heiden (AR)


Patrick Thurston

Der Gründer des gleichnamigen Architekturbüros in Bern gewann 2009 mit seinem Team den Wettbewerb für die Neugestaltung des historisch bedeutenden Gebäudeensembles. Patrick Thurston (*1959) ist ausgebildeter Hochbauzeichner, Autodidakt und seit 2014 Vorsitzender des BSA Bern. thurston.ch

Magazin Wir HOLZBAUER

Das Mitglieder- und Verbandsmagazin von Holzbau Schweiz