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04/2019 Zukunft

BAU.WERK

Music Box: Ein Bau, der sich zügeln lässt

Die fünfstöckige Studentenresidenz an der Reuss in Luzern würde den nächsten 100 Jahren trotzen, könnte aber auch disloziert werden, sollte es nötig sein. Geschraubt statt genagelt lautet die Baudevise der Renggli AG.

Text Cornelia Bisch | Fotos Renggli AG, Franca Pedrazetti, Luzern

Wie ein Teil der Landschaft lehnt sich der fünfstöckige, längliche Bau mit der bereits leicht verwitterten Fichtenholzfassade an den Reussport-Hang in Luzern – umgeben von viel Grün und mitten in einem alteingesessenen Quartier aus den 1960er und 1970er Jahren. Die ruhig dahingleitende Reuss begrenzt das Grundstück in westlicher Richtung. Der Eingangsbereich liegt hangseits im zweiten Obergeschoss, wo die freundliche Schrottfigur eines Klarinette spielenden Vogels Besucher und Bewohner empfängt. Die Lage des Gebäudes ermöglicht den ebenerdigen Zugang zu jeder Etage. Eine Steintreppe führt seitlich am Haus entlang in den unteren Gartenbereich, wo einige Sitzplätze von sämtlichen Hausbewohnern genutzt werden können. Über einen kleinen Weg gelangen die Nutzer zu einem lauschigen Strandplatz am Fluss. Auf der anderen Seite des Hauses sind die Räume auf allen Etagen hinweg über Laubengänge erschlossen, die im Brandfall als Fluchtwege dienen. Kletterpflanzen beleben die Metallgeländer. Die Fassade besteht aus zementgebundenen Leichtbeton-Bauplatten, die ebenfalls aus Brandschutzgründen für diesen Bereich vorgeschrieben sind. Die Photovoltaikanlage auf dem Flachdach versorgt die 25 Studios mit Strom. Eine Metalltreppe führt vom Eingangsbereich ins Attikageschoss, wo auf einer weiten Terrasse Tischtennis und -fussball gespielt werden können. Auf der Flussseite ist ein ebenso grosszügiger Aussenbereich der Erholung gewidmet.


Bewohner planten mit

Ein junger Mann tritt aus der Eingangstür und grüsst freundlich. Der Bauherr, Kantonsrat Urban Frye, der selbst in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt, grüsst zurück. Man ist per Du. «Ich war früher selbst Musiker und weiss, wie schwierig es ist, bezahlbaren Wohn- und Übungsraum zu finden», erklärt er. Da sie häufig und lange üben, sind Musiker keine besonders beliebten Mieter. Seine «Music Box», wie Frye den Neubau nennt, hat er deshalb ganz auf die Wünsche und Bedürfnisse der Studierenden der Musikhochschule Luzern abgestimmt. Schon bei der Planung hat er sie an Bord geholt. «Wir planten mit Akustikern, den Ingenieuren der Firma Lauber AG sowie den Studierenden. Die Ausführung übernahm anschliessend die Renggli AG aus Schötz.» Lediglich beratend stand Architekt Markus Heggli dem Team zur Seite. Dies ist nur eine der zahlreichen Besonderheiten des visionären Baus. Am aussergewöhnlichsten ist sicher der Umstand, dass sich dieses Haus vom Keller bis zum Dach zerlegen, zügeln und wieder aufbauen lässt.


Befristete Baubewilligung

Er habe das Grundstück vor 15 Jahren vom Kanton erworben, erzählt der Bauherr, unmittelbar nachdem die Entscheidung gefallen sei, auf den Bau des Autobahnanschlusses «Spange Nord», der direkt über das Grundstück geführt hätte, zu verzichten. Frye verfolgte die Idee einer Überbauung, in der Wohnen und Arbeiten unter demselben Dach möglich gewesen wären. Als er dafür eine Baubewilligung beantragte, erfuhr er, dass das Spange-Nord-Projekt inzwischen wieder aus der Schublade geholt worden war und erneut zur Diskussion stand. Frühester Termin für den Baubeginn: das Jahr 2032. Gut, habe er geantwortet, dann beantrage er eben eine auf diesen Termin befristete Baubewilligung. Diese wurde ihm gewährt, und die Idee zur abbaubaren Music Box nahm Gestalt an. Für Studierende, die sowieso nur auf Zeit dort wohnen würden, wäre es leicht, umzuziehen, sollte es denn nötig werden, so Urban Fryes Grundgedanke.


Hohe Anforderungen bei geringen Kosten

Der Anspruch des Bauherrn lautete, so ökologisch und nachhaltig wie möglich zu bauen. Die Studierenden wünschten sich preiswerte Wohnungen und schallgeschützte Übungsräume. Das musste unter einen Hut gebracht werden mit dem übergeordneten Ziel, das gesamte Gebäude zerlegbar zu bauen. Auch die Banken reagierten skeptisch und mussten erst von der Konzeptidee überzeugt werden. «Für uns hiess das, pragmatische Lösungen zu finden sowie möglichst viele Verbindungen zu verschrauben statt zu nageln, zu leimen oder zu klammern», erläutert Samuel Renggli, technischer Projektberater der Renggli AG. Und natürlich günstige Materialien zu verbauen sowie bei der Ausführung konsequent Kompromisse einzugehen und – wo verzichtbar – keinerlei «Baukosmetik» anzuwenden. Eine Herausforderung für das Holzbauunternehmen, das sich damit weitgehend auf neues Terrain begab. Den Zuschlag erhielt es einerseits wegen der preisgünstigen Offerte, in der bereits die Umzugskosten enthalten sein mussten. Andererseits war aber auch die solide Struktur des Traditionsunternehmens ausschlaggebend. «Ich musste doch sicher sein, dass es die Firma im Jahr 2032 noch gibt», bemerkt der Bauherr lakonisch. Die Gesamtkosten für den Bau lagen bei rund 3,5 Millionen Franken. «Die Parzelle habe ich quasi ohne Rendite dazugegeben, sodass ich den Mietpreis pro Apartment bei durchschnittlich 850 Franken ansetzen konnte», erklärt Frye. Mit Einberechnung des Grundstückspreises hätte er das Doppelte verlangen müssen.


Flexible Raumeinteilung

«Der Statik mussten wir besondere Beachtung schenken», führt Renggli aus. Die längsseitigen Aussenwände sowie die innere Trennwand wurden als Tragachsen festgelegt. «So waren wir weitgehend frei bei der Einteilung der Innenräume.» Auch eine spätere Veränderung wäre ohne massive Eingriffe möglich. Zwecks Terrainsicherung und Feuchtigkeitsschutz für das Holzwerk musste der Kellerbereich des Gebäudes in Massivbauweise erstellt werden. Darüber wurde das Haus in demontierbarem Holzelementbau aufgebaut. «Wegen der hohen Anforderungen bezüglich Ökonomie, Nachhaltigkeit, Bausystem sowie Schall- und Brandschutz musste eine individuelle Projektlösung entwickelt werden», betont Renggli. Ein hoher Vorfertigungsgrad im Werk Schötz wurde angestrebt und ausgeführt. «Das Gebäude war in drei Wochen aufgebaut.» Die Fassade, die gesamte Gebäudetechnik sowie der Innenausbau wurden anschliessend vor Ort errichtet. Aber auch hier plante man budgettechnisch so knapp wie möglich, verzichtete auf verputzte Innenwände und liess nur das Notwendigste streichen.

Die Vollholz-Treppenverkleidung aus Fichte/Tanne ist sichtbar und trägt zur warmen Atmosphäre bei. Auch die kleinen Badezimmer der Studios geben den Blick frei auf die Holzkonstruktion. Die Feuchtbereiche wurden mit Kunststoff ausgelegt, um teure Feinsteinzeugplatten zu vermeiden. Die Einzimmerwohnungen sind mit Küchen und Mobiliar aus dem Möbelhaus eingerichtet. «Wenn wir im Jahr 2032 wirklich zügeln müssen, werden die Küchen ersetzt», erklärt Urban Frye. Dies ist zwar eine Einbusse im Bereich Nachhaltigkeit, wird jedoch einen allfälligen Umzug wesentlich erleichtern und bezahlbarer gestalten.

Bezüglich Schallschutz wurde vor allem aus Kostengründen genau eruiert, welche Massnahmen notwendig sein würden. Im gesamten Wohnraum wurde ein einfacher, dunkler Teppichboden verlegt, der bei Bedarf auch stellenweise erneuert werden kann. «Wir errichteten zweischalige Wände zwischen den Zimmern und zum Korridor hin», berichtet Renggli. Auf teure, schallisolierte Türen wurde jedoch verzichtet. «Wenn man sich im Gang aufhält, ist es ja egal, wenn Musik aus den Zimmern zu hören ist», argumentiert der Bauherr. Hingegen beim Üben in den Räumen dürfen sich die Bewohner gegenseitig nicht stören. Auch die öffentlichen Übungsräume im Unter- und Erdgeschoss wurden schallisoliert gebaut. Selbst im Technikraum, wo hinter einem hübschen Vorhang verdeckt die verschiebbare Luftwärmepumpe untergebracht ist, steht ein Flügel für Übungszwecke.

 

Begegnungs- und Konzerträume

Sämtliche Gebäudeebenen sind mit einem Lift verbunden, der vor allem für den Transport von grossen Instrumenten sowie von Menschen mit Mobilitätseinschränkung genutzt wird. Vier der Studios sind vollständig rollstuhlgängig eingerichtet. Auf jedem Geschoss gibt es behagliche Begegnungszonen für die jungen Musiker. Eine grosse Küche sowie eine aus Palettenrahmen gefertigte Bühne mit Bestuhlung für 70 Personen stehen für die allgemeine Nutzung im zweiten Obergeschoss zur Verfügung. Öffentliche Toiletten und einen Hauswirtschaftsraum gibt es auf den darunterliegenden Stockwerken.

Sämtliche Proberäume im Unter- und Erdgeschoss sind für alle Bewohner zugänglich. Im ganzen Haus gibt es vier Flügel, die der Bauherr selbst bezahlt oder durch Stiftungen erhalten hat. «Der Vater einer Bewohnerin hat uns sogar ein Tonstudio eingerichtet, das die Studierenden frei nutzen können», erzählt er. Im grössten Proberaum im Kellergeschoss stehen zusätzlich ein Schlagzeug, ein antikes Harmonium und ein Cembalo zur freien Nutzung bereit. «Von Monteverdi bis Jazz kann man hier alles spielen», stellt Urban Frye lachend fest. Gute Kontakte und ein grosser persönlicher Einsatz waren dafür nötig gewesen. Noch gibt es keine Hausordnung. «Es herrscht ein hoher Grad an Eigenverantwortung», betont der Bauherr. Bisher funktioniere das ausgezeichnet.


Pionierarbeit mit Strahlkraft

Seit Frühling 2019 ist die Music Box durch Studierende aus dem In- und Ausland bewohnt. Die Warteliste ist bereits auf 30 Namen angestiegen. Das Interesse an diesem beispielhaften Konzept ist gross. «Immer wieder kommen Leute aus ganz Europa zur Besichtigung vorbei.» Frye stellt auch reges Interesse seitens der Quartierbevölkerung fest. Anfragen für Konzerte und Workshops mit Kindern der nahen Schule St. Karli seien bereits eingegangen. «Hier wohnen tolle junge Leute, die offen sind für solche Ideen und gerne Konzerte geben für die Nachbarschaft.» Auch Samuel Renggli zieht eine positive Bilanz. «Dieses Projekt war sehr spannend für uns. Ein gutes Beispiel dafür, dass man auch mit pragmatischen Lösungen zielführend bauen kann. Es ist ein Stück Pionierarbeit und ein interessantes Referenzobjekt für uns.» renggli.swiss, music-box.net, lauber-ing.ch

Das Projekt – die Fakten

Projekt: «Music Box», Off-Campus-Residence, Neubau
Standort: Luzern
Fertigstellung: 2019
Planungszeit: 12 Monate
Bauzeit: 8 Monate
Bauherrschaft: Urban Frye
Planung, Entwicklung und Engineering: Lauber Ingenieure AG, Luzern
Beratender Architekt: Markus Heggli, Luzern
Holzbau: Renggli AG, Schötz (LU)
Akustik: Gartenmann Engineering, Luzern
Baukosten: CHF 3,5 Mio.
Gebäudevolumen (SIA 416): 3315 m3
Nettogeschossfläche (SIA 416): 890 m2
Holz: Fichte/Tanne aus der Alpenregion; rund 350 m3 für Platten, Vollholzdecken, Schalung und Konstruktionsholz

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