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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

02/2018 Form und Struktur

Stil.Form

Unter einem Dach vereint

Was haben Soulsängerin Aretha Franklin und Algorithmen gemeinsam? Sie teilen sich ein spektakuläres Dach im ArtLab. Auf dem Campus der Eidgenössischen Technischen Hochschule von Lausanne widmen sich separate Pavillons der klassischen Musik, Big Data und experimenteller Kunst. Das Dach ist das Bindeglied zwischen Disziplinen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Text Sandra Depner | Fotos Valentin Jeck, Michel Denancé

Als der Architekt Kengo Kuma an dem heute als ArtLab bekannten, 250 Meter langen Baukörper arbeitete, gab er dem Projekt den Namen «Under one Roof». Auf dem Campus der École polytechnique fédérale de Lausanne, kurz EPFL, fügt sich vermeintlich Gegensätzliches ganz harmonisch unter diesem einen durchgehenden Dach: Kunst und Wissenschaft, Kreativität und Forschung. Drei für sich allein stehende, öffentlich zugängliche Pavillons widmen sich mit Ausstellungen und öffentlichen Begegnungsorten den verschiedenen Disziplinen. In ihrer Gesamtheit als ArtLab wollen sie den Dialog zwischen Wissenschaft, Kultur und Öffentlichkeit fördern und den Campus beleben. 2012 gewann das japanische Architekturbüro Kengo Kuma and Associates den Wettbewerb. Das ArtLab wurde auf dem Place Cosandey realisiert, um den weitläufigen EPFL-Campus aufzuwerten.

Der längliche Baukörper erstreckt sich auf 250 Metern entlang auf der Nord-Süd-Achse. Durchgänge zwischen den Pavillons geben dem ArtLab Leichtigkeit und Durchlässigkeit. Das Gebäude ist verbindendes und trennendes Element in einem: Es verbindet den Campus im Norden mit den Studentenunterkünften im Süden. Auf der Ost-West-Achse trennt es den dicht bebauten Westen vom baulich offeneren Areal im Osten.


Die Bauarbeiten setzten 2014 ein, Abschluss feierte das Projekt im November 2016. Die Kosten für den Neubau inklusive Innenausbau von CHF 35,5 Millionen wurden nahezu zur Hälfte von privaten Trägern finanziert. Bei der Eröffnung sprach Bundesrat Alain Berset, der sich fasziniert zeigte von der inneren Logik des ArtLabs: «Wir feiern ein Dach, das im Zeichen von Drei geboren wurde. Es beherbergt drei Pavillons, die eine musikalische, museale und wissenschaftliche Dreieinigkeit bilden. Und wir eröffnen das ArtLab heute am 3. November. Das ist kein Zufall.» Auch beim architektonischen Konzept wurde nichts dem Zufall überlassen – in Form und Material schwingt Bedeutung mit.

 

Mit Schwung in die Höhe

An der nördlichen Fassade zieht das ArtLab den Betrachter sofort in seinen Bann und offenbart seine architektonische Raffinesse. Die Konstruktion leitet hier ein in die ungewöhnliche Architektur des Japaners Kengo Kuma, der mit dem ArtLab sein erstes Projekt auf Schweizer Boden realisierte. Das Massivholzdach erscheint, als wäre es dreidimensional gefaltet worden. Es erweckt den Eindruck, als wachse es aus dem Boden. Um sich dann mit Schwung aufzurichten und dahin zu gelangen, wo es hingehört: als schützendes Dach auf die ordnende Tragstruktur aus Holz und Stahl.

Das zusammenfassende Dach ist mehr als 250 Meter lang. Es ist als freitragendes Vordach geplant und zeichnet sich durch seine aussergewöhnlichen Schrägen und asymmetrischen Flächen aus. Die digitale Planung stammt vom Ingenieurbüro Ingphi aus Lausanne. Die abfallenden Flächen sind alles andere als regelmässig und brechen mit der geordneten Struktur der für diese Region bekannten Steindächer. Gleichzeitig ist das Dach mit Schindeln aus schwarzem Schiefer eingedeckt – eine Reminiszenz an die regionale Bautradition. Stahlstangen verstärken das mit Epoxidharz versiegelte Massivholz.

 

Aretha und die Algorithmen

Die mal mehr, mal weniger breite Gebäudekette schlängelt sich entlang der Nord-Süd-Achse über den Campus. So begleitet das ArtLab die Studenten und Hochschulmitarbeiter auf ihrer täglichen Wegstrecke von der Hochschule zu den Unterkünften. Im Empfangsbereich des ArtLab wird der Besucher über die aktuelle Forschung an der EPFL informiert. Am südlichen Ende befindet sich der erste Pavillon: das Montreux Jazz Café auf 895 Quadratmetern. Hier ist das Montreux Jazz Festival Heritage Lab untergebracht. Es umfasst eine Sammlung von 5000 Konzerten – angefangen bei Aretha Franklin über Ray Charles bis hin zu Prince. Das bedeutet etwa 11 000 Stunden Videomaterial, 6000 Stunden Tonaufnahmen und mehr als 80 000 Bilder – wertvoller Kulturstoff, der hier aufbewahrt und digitalisiert wird.

Der zweite Gebäudeteil ist für experimentelle Ausstellungen vorgesehen. Auf 1836 Quadratmetern, 618 davon reine Ausstellungsfläche, präsentiert das EPFL mit den hauseigenen Laboren und Start-ups Ausstellungen zu Themen zwischen Wissenschaft und Kunst.

Am nördlichen Ende des ArtLab steht der dritte Pavillon ganz im Zeichen der Digitalisierung: das Datasquare. Zwei Forschungsinitiativen der EPFL laden ein, durch die Datenbrille zu schauen. Das «Blue Brain Project» will das menschliche Gehirn nachbauen – auf Basis neurobiologischer Daten. Das Projekt «The Venice Time Machine» versucht sich hingegen in einer Zeitreise. Die Geschichte Venedigs soll mittels Digitalisierung der Stadtarchive rekonstruiert werden. Im 629 Quadratmeter grossen Datasquare machen die Initiativen in einer Dauerausstellung ihre Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich. Das aussergewöhnliche Dach liegt auf einer hybriden Tragstruktur auf. Der Rahmen besteht aus Brettschichtholz, ummantelt mit Stahlblech, das teilweise perforiert ist. Aufgrund der vorgegebenen Architektur entwickelte das Lausanner Ingenieurbüro Ingphi die hybride, tragende Konstruktion. Sie ist gekennzeichnet durch eine zentrale Einfassung aus geleimtem Lamellenholz, die von einem Rahmen aus perforiertem Stahlblech bedeckt ist. Die beiden sind verleimt und mit Hilfe von auf den Stahlblechen festgeschweissten Metallzapfen verbunden.

Kontrast und Rhythmus

Einen starken Kontrast zur Dachkonstruktion bildet die tragende Konstruktion. Während das Dach aus jeglicher Regelmässigkeit ausbricht, steht die Tragkonstruktion im Rhythmus eines festen Rasters: Der langgezogene Baukörper lässt sich in insgesamt 56 Rahmenkonstruktionen unterteilen. Sie reihen sich im Abstand von 3,80 Metern aneinander – sichtbar an den an der Fassade heraustretenden Elementen der Wand- und Dachflächenmodule in standardisierter Grösse, die mit dem perforierten Stahlmodulen verkleidet sind. Sie verleihen der Fassade aus lasierter Fichte eine markante Struktur. Keines der Module gleicht einem anderen. Ihre Individualität ist der Dachkonstruktion und unterschiedlichen Gebäudebreiten geschuldet. Sie müssen sich den verschiedenen Dachschrägen anpassen, die mal mehr, mal weniger rhythmisch zum Tragwerk verlaufen. Und dann ist da noch die Breite des Gebäudes, die ebenfalls stark variiert und zwischen den Extremen von 6 Metern und maximal 16 Metern liegt. Eine so individuelle Geometrie aufgrund unterschiedlicher Dachflächenformen und Gebäudebreiten erforderte im Vorfeld eine präzise, dreidimensionale Planung.

Ein Ort der Tradition und der Moderne

Das ArtLab will eine Brücke spannen zwischen den Disziplinen, aber auch den Austausch und die Diskussion anregen. Ähnliches versucht das japanische Architekturbüro Kengo Kuma & Associates mit seinem Konzept: Die aussergewöhnliche Länge des ArtLab aus will dazu einladen, Tradition und Innovation diskutieren. Es will Vergangenheit und Zukunft reflektieren.

Lausanne ist ein geeigneter Ort dafür, in Form eines modernen Holzbaus über Innovation und Tradition nachzudenken: Kein anderer als die Holzbaulegende Julius Natterer gibt hier seit Jahrzehnten als Hochschulprofessor Studierenden sein Wissen im Holzbau weiter. Der deutsche Ingenieur wurde 1978 an die École Polytechnique Fédérale de Lausanne berufen und leitete dort das Institut für Holzkonstruktionen. Heute trägt er den Titel des Ehrenprofessors an der EPFL. Natterer gilt als einer der bedeutendsten Persönlichkeiten im Holzbau und entwickelte zahlreiche neuartige Holzbaukonstruktionen wie beispielweise die Brettstapelbauweise. ingphi.ch, epfl.ch, kkaa.co.jp, jpf-ducret.ch


Das Projekt – die Fakten

Objekt: ArtLab EPFL
Standort: Place Cosandey, 1015 Lausanne (VS)
Fertigstellung: 2016
Bauherrschaft: École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL), Lausanne
Architektur: Kengo Kuma and Associates, Tokio (JA);
CCHE Architecture et Design SA, Lausanne
Holzbau: JPF-Ducret SA, Bulle (FR)
Totalunternehmer: Marti Construction SA, Lausanne
Bauingenieur: Ingphi SA, Lausanne
Baukosten gesamt: CHF 30,9 Mio.
Gebäudevolumen: 17 586 m³
Bruttogeschossfläche: 3360 m²

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