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05/2018 Mehrgeschossig bauen mit Holz

BAUEN

Sue & Til: Der grösste Holzbau der Schweiz

50 000 Quadratmeter Holzbauelemente und hochgerechnet 10 000 Arbeitstage bei den Ingenieuren – das sind nur zwei Indizien dafür, dass in Winterthur Grosses entsteht. Genauer: der grösste Holzbau der Schweiz mit 20 Gebäuden und mehr als 300 Wohnungen. Sue & Til heisst die Überbauung, die neue Massstäbe im urbanen Bauen setzt.

Text Sandra Depner, Stefan Rüegg | Fotos Timbatec Holzbauingenieure Schweiz AG

Winterthur hat sich zu einem bedeutenden Wirtschafts- und Industriestandort in der Schweiz entwickelt. Daneben überzeugt die Stadt im Kanton Zürich auch hinsichtlich Lebensqualität mit einem weitverzweigten Velonetz und vielen Grünanlagen. Durch eines seiner neuesten Bauprojekte gewinnt Winterthur zusätzlich an Attraktivität: Im Stadtteil Neuhegi steht die Wohnüberbauung Sue & Til kurz vor der Fertigstellung. Es handelt sich bei dem Bauprojekt um den aktuell grössten Holzbau der Schweiz. Die Dimensionen sprechen für sich: 20 fünf- bis sechsgeschossige Gebäude stehen auf dem 1,7 Hektar grossen Areal. Sie fassen 307 Miet- und Eigentumswohnungen, die sich an diverse Nutzertypen richten: Singles, Wohngemeinschaften, Familien oder Paare. Für die öffentliche Nutzung sind rund 1500 Quadratmeter vorgesehen.


Implenia entwickelte das Projekt, ist Bauherrin für die Eigentumswohnungen und realisiert die Überbauung als Totalunternehmerin. 2010 übernahm Implenia das Grundstück vom Winterthurer Unternehmen Sulzer. Den 2013 ausgeschriebenen Architekturwettbewerb entschieden zwei Zürcher Planungsbüros, Weberbrunner Architekten und Soppelsa Architekten, für sich. Nach dem Abschluss des Vorprojekts sowie der Baueingabe konnte es dann 2015 mit dem Bau losgehen.


Der Baumeister nahm im April 2016 seine Arbeiten auf, die Realisierung des Holzbaus erfolgte ab September 2016 gestaffelt über den Zeitraum eines Jahres. Im Dezember 2017 waren die ersten Baukörper fertiggestellt. Während nebenan noch die weiteren Häuser eines ums andere entstanden, zogen die ersten Mieter bereits ein. Etappenweise konnten in den folgenden Monaten bis heute immer mehr Wohnungen bezogen werden. Die letzten Mietwohnungen sind ab September 2018 bezugsbereit – genau zwei Jahre nach der Aufrichte des ersten Gebäudes.


Klasse statt Masse

Beim Architekturkonzept der weitläufigen Wohnüberbauung waren Überlegungen zum städtebaulichen Aspekt von zentraler Bedeutung. Winterthur sollte sich als bipolare Stadt mit zwei urbanen Zentren entwickeln: Mit einem historischen Stadtzentrum auf der einen Seite und der neuen, modernen Stadt in Winterthur Neuhegi auf der anderen Seite. Die Bebauung sollte nach Vorstellung der Stadt entlang der Flächenränder erfolgen, wobei eine Nutzung bis zum Boden gewünscht war.


Ein Essemble mit mehr als 300 Wohneinheiten ist grossdimensional. Somit stellte sich schon früh die Frage nach einer harmonischen Lösung auf dem Areal – harmonisch für die Nutzer und die Passanten. Folglich realisierten die Planer einen gemeinsamen Hof als inneres Zentrum zwischen den Gebäuden. Die Begrünung dient als Kontrast zur Masse und zur Materialisierung. Architektonisch setzten die Planer die Anforderung mit verschieden hohen Traufen um, unter anderem durch zweigeschossige Attikawohnungen, die rund einen Viertel aller Wohneinheiten ausmachen. Hinsichtlich Gestaltung und Erscheinungsbild orientiert sich die Wohnüberbauung an der Gründerzeitbebauung in Winterthur, gekennzeichnet durch ein Sockelgeschoss und eine regelmässige Fassadeneinteilung. Die Treppentürme sowie die Unter- und Erdgeschosse der Grossüberbauung sind in Massivbauweise realisiert, in den Obergeschossen wurde konstruktiv auf reinen Holzbau gesetzt.


Bei der Planung von Sue & Til spielte eine nachhaltige und umweltverträgliche Bauweise die entscheidende Rolle. Es sollten die Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft erfüllt werden, das den Energieverbrauch einer Person auf 2000 Watt pro Jahr herunterschrauben will. Die Zielerreichung war nur dank der Bauweise mit Holz möglich. Ein gut gedämmter Wohnungsbau wie dieser sorgt für einen tieferen Energiebedarf und somit für tiefere Treibhausgasemissionen. Die Gebäude sind entsprechend dem SIA-Effizienzpfad Energie 2040 mit einer Komfortlüftung ausgestattet und nach Minergie-Standard zertifiziert. Eine umweltverträglichere Mobilität ist mittels einer Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und Car-Sharing-Angeboten gelöst.

 

10 000 Ingenieur-Arbeitstage
Die Planer von Timbatec Holzbauingenieure lieferten das Brandschutz- sowie das Tragwerkskonzept für Sue & Til. Am Ende kamen sie auf hochgerechnet 10 000 Arbeitstage, die sie in das Projekt steckten: für die Tragwerksplanung, den Brandschutz und die Werkplanung Holzbau. Und so sieht der Holzbau konkret aus: Die Gebäude verfügen über vier Tragachsen. Ein Grossteil der Innen- und Trennwände ist nicht tragend und besteht aus Gips-Ständerwänden. Tragende Wände sowie etappenabschnittsbildende Wände sind in Holzrahmenbauweise oder mit CLT-Platten realisiert. Die Stützen und Unterzüge bestehen aus Brettschichtholz. Die Lastdurchleitung erfolgt mit Stahlprofilen. Die Spannweite der Massivholzelementdecken liegt bei 7,4 Metern. Alle Dach- und Wandelemente wurden mit Zellulosedämmung befüllt – mit Ausnahme der drei Brandmauern. Die Nasszellen, insgesamt 402 Einheiten für den Mietbereich, wurden in elf verschiedenen Ausführungen produziert. Die Nasszellen im Stockwerkeigentum sind konventionell realisiert. Die Gebäude verfügen über ein Flachdach mit extensiver Begrünung. Die Aussenwände sind in allen Geschossen in Holzrahmenbauweise mit hinterlüfteter Alucobondfassade realisiert.


Implenia entschied sich früh dafür, ab dem ersten Geschoss einen reinen Holzbau und keine Hybridlösung zu bauen. Wenn es um eine wohnliche Atmosphäre geht, sind bei einem Mehrfamilienhaus aber besonders die Schallschutzwerte der Konstruktion entscheidend. Um bei Sue & Til ideale Werte zu erreichen, wurden die Decken mit unterschiedlichen Aufbauten an der Eidgenössischen Material- und Forschungsanstalt Empa vorab geprüft und bewertet und darauffolgend an einem zweigeschossigen Mock-up auf der Baustelle geprüft und quantifiziert. Die Decken sind heute mit einer acht Zentimeter dicken Splittschüttung realisiert. Die Brandmauern in Holzbauweise verfügen über einen Feuerwiderstand von 2xREI 90. Solche Brandwände sind erst seit der Revision der Bandschutzvorschriften von 2015 möglich. Da die Planung von Sue & Til jedoch schon früher erfolgte, waren zunächst noch Wände aus Holz-Beton-Verbund vorgesehen. Der massive Kern forderte von den Holzbauingenieuren etwas Flexibilität in der Massgenauigkeit des Holzbaus. In Zusammenarbeit zwischen Implenia Holzbau und den Ingenieuren wurden Toleranzpläne erstellt, die erläuterten, welche Toleranzen wo aufgenommen werden könnten.


Haus um Haus, Stock um Stock

Ein Grossprojekt wie Sue & Til glückt nur bei genauester Planung. Deshalb wurden die Fachplaner und Experten über das Lean-Management mit genauem Taktplan koordiniert, ein 4D-Modell schuf Orientierung im Bauablauf. Die Aufteilung erfolgte nach Häusern. Im Bauablaufprogramm waren jedes Stockwerk und jeder einzelne Tag exakt definiert, nichts blieb dem Zufall überlassen. Wöchentlich fanden Kontrollgänge mit der Bauherrschaft statt.


Die Errichtung der 20 Gebäude erfolgte gestaffelt in 13 Holzbauetappen. Sobald ein Treppenturm fertig war, wurde der dazugehörende Baukörper erstellt. Total waren für den Baumeister fünf Kräne im Einsatz, die nachfolgend für den Holzbau eingesetzt wurden. Wichtig war, dass immer die richtige Nasszelle an den richtigen Ort gestellt wurde. Bei einer genauen Taktung, die jeden einzelnen Tag wertet, ist das Arbeiten effizient – Fehler sind umso fataler. Passiert ein Fehler, kann dieser nur mit grossem Aufwand und in konventioneller Bauweise ausgebügelt werden.


Die Einbindung des Unternehmens bereits im Vorprojekt erwies sich als grosser Vorteil im Bauprozess. Um genaue Daten zu liefern, wurde die Baustelle mit Tachymeter eingemessen. Durchschnittlich waren von Implenia Holzbau 20 bis 5 Mitarbeitende auf der Baustelle. 20 weitere arbeiteten im Werk in der Vorfabrikation. Dort wurde die Produktion für die 20 Häuser im September 2016 gestartet. Das letzte Element auf der Baustelle wurde von den Zimmerleuten im Oktober 2017 gesetzt. Der zügige Baufortschritt war dank guter Witterungsverhältnisse und einem Bauschutz durch Notdächer möglich.


Die Qualität wurde laufend kontrolliert – durch interne und externe Kontrolleure, in der Produktion und auf der Baustelle. Für den Erfolg des Projekts war aber nicht nur ein schneller und qualitativ guter, sondern auch ein sicherer Baufortschritt entscheidend. Anhand eines eigens erstellten Arbeitssicherheitskonzepts fanden laufend Schulungen statt, neue Mitarbeiter wurden instruiert und eigene Sicherheitsbeauftragte führten Audits durch.


Mit der Überbauung Sue & Til ist das Quartier Neuhegi seinem Ziel von Vollausbau ein Stück nähergekommen. Der Standort bietet Platz für 4000 Einwohner und rund 8000 Arbeitsplätze. Andere Überbauungen auf dem Areal tragen Namen wie Max, Liz oder Joy. Die Marketingstrategie verfolgt damit den Familiengedanken: Die Gebäude sollen in Neuhegi zusammenwachsen, das Quartier komplett machen. Sie gehören zusammen – eben wie eine Familie.
implenia.com, timbatec.ch, sueundtil.ch