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07/2022 Die Chefin

BAUEN

Raumkammern für mehr Privatsphäre

Wie kann die ehemalige Winterthurer «Kochschule» innert kürzester Zeit zu einer temporären Asylunterkunft umfunktioniert werden? Eine grosse Schulküche allein reicht nicht aus, um Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine eine adäquate Unterkunft zu bieten. Mit hölzernen Einbauten wurden die ehemaligen Schulzimmer zu flexibel nutzbaren Wohnräumen umgestaltet.

Text und Bilder Hannes Jedele, Architekten-Kollektiv AG

 

Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 sind bis August rund 770 Menschen aus der Ukraine nach Winterthur geflüchtet. Viele Personen fanden bei Gastfamilien, auf dem Wohnungsmarkt oder in den 40 Wohnungen, die die Stadt Winterthur angemietet hat, eine Bleibe. Menschen, für die keine Wohnung gefunden werden konnte, leben in Gemeinschaftsunterkünften. Mit der Umnutzung der «Alten Kochschule» des Winterthurer Frauenbunds wurde dringend benötigter Platz für knapp 70 Personen geschaffen.


Die Liegenschaft im Stadtzentrum eignet sich ideal für eine solche Zwischennutzung: Im Hochparterre befand sich bereits eine grosse Gemeinschaftsküche. Um in den ehemaligen Klassenzimmern Wohnräume einzurichten, musste jedoch eine praktikable Lösung mit temporärer Möblierung entwickelt werden. Entstanden ist ein Konzept aus hölzernen Einbauten, welche die Schlaf- und Wohnräume gliedern. Entworfen hat sie Zimmermann und Architekt Hannes Jedele in Zusammenarbeit mit der Architekten-Kollektiv AG. Gefertigt wurde die Möblierung in kürzester Zeit von der Zehnder Holz + Bau AG aus Winterthur.


Die Bauaufgabe dreht sich um die eigentliche Kernfrage der Architektur: Es ging darum, mit einfachen Mitteln und beschränkten Möglichkeiten in kurzer Zeit schutzsuchenden Menschen eine Behausung zu bieten, welche die Grundbedürfnisse abdeckt: Schlafen, Wohnen, Rückzugsorte, Kochen, Essen, Hygiene. Das erforderte rasches, konkretes Handeln: bei den Auftraggebern, Behörden, Planern, Unternehmern und der Bauleitung. Für alle Beteiligten bedeutete dieses Projekt eine intensive Zeit – das Resultat zeigt aber auch, was in kurzer Zeit bei konstruktiver Zusammenarbeit entstehen kann.


Die bestehenden Schulzimmer sollten als Wohnraum für vier bis acht Menschen eingerichtet werden. Gesucht war ein Raumlayout, das die Schulräume in je zwei Wohneinheiten unterteilt, Privatsphäre schafft und Rückzugsorte ermöglicht. Das Ziel war es, eine würdevolle Alternative zu Messestellwänden und Zivilschutzbetten zu finden. Die Bewohner und Bewohnerinnen sollten überdies die Möglichkeit haben, die Betten als Doppelbetten oder Kajütenbetten situativ anzupassen.


Schiebetür bietet Durchblick

Beim Entwurf und bei der Realisierung haben sich die Projektverantwortlichen mit folgenden Fragen beschäftigt: Welche Rolle soll und kann die Architektur bei dieser Bauaufgabe spielen? Wie kann ein stattliches Sichtbacksteinhaus, das nicht primär durch innenräumliche Qualitäten überzeugt, mit reversiblen Einbauten zu einer temporären Unterkunft umgenutzt werden? Gelingt eine Umsetzung innerhalb des vorgegebenen engen Kostenrahmens? Zehn Wochen Zeit vom Planungsstart bis zur Fertigstellung: Ist das zu schaffen?


Die Raumkammern, die wie Möbel frei in die ehemaligen Schulzimmer gestellt werden, sind gerade so gross, dass zwei Betten, ein Schiebeschrank und ein Regal Platz darin finden. Das Grundelement einer solchen Schlafnische besteht aus Fichte-Dreischichtplatten und misst 2,30 Meter auf 2,30 Meter bei einer Höhe von 2,40 Metern. Ein Vorhang dient als Abtrennung zum Wohnbereich und gewährt Privatsphäre. Von innen und aussen bedienbar ist der Schrank mit Schiebetüren, der als Durchblickfenster genutzt werden kann. An der Nischenfront befinden sich zudem Regale. Sichtbar verlegt wurden die Elektroinstallationen für Steckdosen, Schalter und Deckenlampen.


Prinzip Schneckenhaus

Die immer gleichen hölzernen Einbauten werden je nach Schulzimmergrösse verschieden gruppiert. Der mäandrierende Zwischenraum wird als Wohnraum genutzt: für Tisch, Kühlschrank und ein privates Schliessfach. So entsteht eine Raumfolge von Innen, Aussen und Dazwischen. Jede Wohneinheit verfügt über einen eigenen Eingang, einen Aufenthaltsbereich und als privatesten Rückzugsort ein eigenes Bett. Ähnlich wie bei einem Schneckenhaus können sich die Bewohner und Bewohnerinnen vom Öffentlichen ins Private zurückziehen. Die hölzernen Einbauten bilden einen Kontrast zum bestehenden Innenausbau und bestimmen den Charakter des Schlaf- und Wohnbereichs.


Insgesamt 28 Raumkammern mit total 56 Schlafplätzen verteilen sich auf drei Geschosse. Vereinzelte kleine Zimmer wurden durch die Stadt Winterthur mit zusätzlichen Schlafplätzen konventionell ausgestattet. Im Tiefparterre sind drei bestehende Räume zu Wasch- und Duschräumen umfunktioniert worden. Ein körperhafter Einbau aus schwarzem Kunstharz nimmt je drei Duschen für Frauen und Männer auf. Zusammen mit den neuen Lavabos in den Waschräumen verleihen sie dem Bestand einen architektonischen Akzent. architektenkollektiv.ch, handholzwerk.ch

HANNES JEDELE

Hannes Jedele lebt und arbeitet in Winterthur. Der 29-jährige Zimmermann und Architekt gründete sein Unternehmen Handholzwerk 2015 und bewegt sich mit seiner Arbeit an der Schnittstelle zwischen Architektur und Handwerk. Neben klassischen Bauaufgaben widmet er sich immer wieder temporären Projekten. Die Asylunterkunft «Alte Kochschule» ist das jüngste Werk einer Reihe von realisierten Temporärbauten, unter anderem den Pavillon of Reflections an der Manifesta 11 auf dem Zürichsee (in Zusammenarbeit mit Studio Tom Emerson ETH Zürich), die Asylunterkunft Kirche Rosenberg in Winterthur sowie eine
temporäre Kapelle in Winterthur.


Baugeschichte

Das Haus «Zum Frauenbund» wurde 1901 durch die Architekten Jung?&? Bridler erbaut. Der Frauenbund Winterthur (heute Familiaris) bot darin Koch- und Haushaltkurse an. 1949 wurde das Gebäude «Alte Kochschule» an die Stadt Winterthur verkauft. Zuerst richtete man Notwohnungen ein, später übernahm der Kanton Zürich die Liegenschaft und die Kantonsschule nutzte die Räumlichkeiten. Bis vor Kurzem war eine Privatschule im Gebäude eingemietet.


Alte Kochschule

Projekt: Umnutzung eines historischen Gebäudes als Asylunterkunft
Bauherrschaft: Stadt Winterthur,
Departement Soziales
Fertigstellung: September 2022
Architektur und Bauleitung: ARGE Hannes Jedele / Architekten-Kollektiv AG, Winterthur
Holzbau: Zehnder Holzbau, Winterthur
Schreinerarbeiten Duschen: Harder Schreinerei Winterthur